Spurlos verschwunden: Neandertaler-Gene

2,5 bis vier Prozent des menschlichen Erbguts stammen vom Neandertaler. Nur das Y-Chromosom scheint von seinem Genmaterial völlig frei zu sein. Warum? Möglicherweise löste die fremde DNA Fehlgeburten aus.

Das Y-Chromosom ist quasi der Zwerg unter den Chromosomen. Das männliche Geschlechtschromosom ist nur mehr ein Drittel so groß wie das weibliche, an Genen trägt es überhaupt nur mehr einen kleinen Bruchteil seines ursprünglichen Bestandes. Die Schrumpfung begann vor etwa 300 Millionen Jahren, lange bevor menschenähnliche Primaten die Erde bevölkerten, wie Forscher vor vier Jahren berechnet haben.

Das veranlasste manche zu der Vermutung, es würde früher oder später ganz verschwinden. Keine Sorge, lautet das Resümee einer jüngeren Studie: Das wenige, was auf dem Y-Chromosom erhalten blieb, ist lebenswichtig - und Männer mithin doch kein Auslaufmodell.

Die Studie

„The Divergence of Neanderthal and Modern Human Y Chromosomes“, American Journal of Human Genetics (7.4.2016).

Ö1-Sendungshinweis

Über dieses Thema berichtet auch das Morgenjournal, 8.4.2016, 8.00 Uhr

Die genetischen Restbestände im Y-Chromosom haben nun Wissenschaftler genauer unter die Lupe genommen, und zwar nicht nur jene von uns, sondern auch die des Neandertalers. Letzterer hat bekanntlich deutliche Spuren in unserem Erbgut hinterlassen. Nachdem der moderne Mensch Afrika vor etwa 100.000 Jahren verlassen hatte, kamen sich die beiden Arten einander körperlich näher, Genaustausch inklusive, in der Folgezeit ist das mindestens zwei weitere Male passiert.

Allein, im Y-Chromosom finden sich keinerlei Spuren dieser urzeitlichen Liaisonen. „Wir haben dort keine Neandertaler-Gene entdeckt“, sagt Sergi Castellano, einer der Studienautoren. „Die vom Neandertaler stammende Erblinie des Y-Chromosoms ist beim modernen Menschen ausgestorben.“

Zufall oder Selektion?

Als Erklärung bieten sich im Prinzip zwei Hypothesen an. Erstens: Es war Zufall. Nachdem das Y-Chromosom nur von Vätern an ihre Söhne weitergegeben werden, enden die Y-Erblinien immer wieder mal in einer Sackgasse - dann nämlich, wenn ein Paar nur Töchter bekommt. Ob das ausreicht, um das komplette Verschwinden zu erklären, bleibt fraglich.

Wahrscheinlicher ist laut Castellano Erklärungsmöglichkeit Nummer zwei. Sie lautet: Hier war die natürliche Selektion am Werk. Auf dem Y-Chromosom sitzen Gene, die bei Abstoßungsreaktionen von transplantierten Organen eine Rolle spielen. Diese Gene, so vermuten die Forscher, könnten auch das mütterliche Immunsystem veranlasst haben, den eigenen Fötus anzugreifen. Sofern eine Homo-sapiens-Frau von einem Neandertaler einen Sohn erwartete, waren Fehlgeburten demnach wahrscheinlich - und so verschwanden die Y-Gene der Neandertaler Schritt für Schritt aus dem Genpool unserer Vorfahren.

Links ein moderner Mensch mit Bart, rechts die Illustration eines Neandertalers, dazwischen eine DNA-Helix

Michael Smeitzer, Vanderbilt University

Wieviel Neandertaler steckt im modernen Menschen?

Wie Sergi Castellano gegenüber science.ORF.at erzählt, sei das X-Chromosom zwar nicht völlig frei von Neandertaler-Genen, doch auch hier fänden sich überraschend wenige Spuren unseres ausgestorbenen Verwandten. Der Schluss daraus: Die Geschlechtschromosomen dürften auf fremdes genetisches Material besonders empfindlich reagieren.

Inseln im Erbgut

Das sind nicht die einzigen „erbkonservativen“ Regionen in unserem Genom. Wie Forscher im März herausgefunden haben, sind auch Gene, die mit der Sprache und der Gehirnentwicklung zu tun haben, frei von neandertalertypischen Sequenzen.

Und natürlich gibt es auch Bereiche, wo sich letztere, weil sie vorteilhaft waren, festgesetzt haben. Rezeptoren, mit denen unser Immunsystem Bakterien, Pilze und Parasiten aufspürt, stammen etwa größtenteils von unserem Verwandten - von dem im Übrigen nicht ganz klar ist, wie nah oder fern er mit dem modernen Menschen tatsächlich verwandt war.

Die offizielle Terminologie führt Homo neandertalensis als eigene Art, aber es könnte sich genauso gut um eine Unterart oder irgendeine andere Varietät gehandelt haben. Solche Begriffe will Castellano sicherheitshalber gar nicht in den Mund nehmen: „Wir sprechen nur von menschlichen Gruppen.“

Robert Czepel, science.ORF.at

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