Wenn die Katze zum Doppelgänger wird

Gehirnverletzungen können zu kuriosen Symptomen führen: So gibt es Patienten, die unter dem Wahn leiden, dass ihnen nahestehende Personen in Wirklichkeit Doppelgänger sind. US-Neurowissenschaftler berichten nun von einem noch kurioseren Fall: Dabei war nicht ein Mensch, sondern eine Katze der vermeintliche Betrüger.

Ryan Darby, Psychologe und Neurowissenschaftler vom Brendon-Allen Center in Boston, und sein Kollege David Caplan vom Massachusetts General Hospital haben sich in einer Studie mit der Krankengeschichte eines 71-jährigen Mannes befasst: Aus seiner Zeit als halbprofessioneller Eishockeyspieler hat dieser einige Schädel-Hirn-Traumata davongetragen, er leidet unter einer bipolaren Störung und ist alkoholabhängig.

Beginn der katzenartigen Verschwörung

Durch neurologische Untersuchungen und Tests stellten die Forscher fest, wie stark der Patient durch die erlittenen Schädel-Hirn-Traumata beeinträchtigt war. Dem 71-jährigen fielen Übungen schwer, in denen es um Erinnerungsvermögen und Wahrnehmung ging, außerdem zeigten Hirnscans, dass Teile der Großhirnrinde geschädigt waren.

Bereits sechs Jahre vor Erscheinen der Studie zeigte der Patient erste Symptome seiner psychischen Erkrankung. Damals setzte er seine Psychopharmaka ab und wurde zunehmend paranoid. Das äußerste sich zunächst in Verfolgungswahn.

Er schrieb seiner Frau beispielsweise Notizen, in denen er überzeugt war, dass sie beobachtet werden. Nach und nach verlagerten sich diese Vorstellungen auf seine Katze, die, wie er glaubte, in der Verschwörung gegen ihn mitwirkte.

Capgras-Syndrom vor fast hundert Jahren „entdeckt“

Dieser „Doppelgängerglaube“ ist das einzige Symptom des Capgras-Syndroms – wie das Phänomen in der Fachsprache heißt. Es tritt einerseits bei Patienten auf, die Verletzungen des Gehirns aufweisen, beispielsweise nach Schlaganfällen oder durch Schädel-Hirn-Traumata. Andererseits kann es auch durch psychische Störungen ausgelöst werden.

Namensgeber ist der französische Psychiater Jean Marie Joseph Capgras, der das Syndrom 1923 mit seinem Assistenten Jean Reboul-Lachaux erstmals als „Doppelgängerillusion“ beschrieben hat.

Im Zusammenhang mit Tieren sind seither jedoch nur wenige Fälle dokumentiert. Ryan Darby und David Caplan fanden hierzu nur eine Aufzeichnung über einen Hund, zwei über Vögel und ebenso viele über Katzen, wobei das tierische Capgras-Syndrom ausschließlich bei psychisch kranken Patienten auftrat.

Laut den Wissenschaftlern ist ihr Fall so besonders, weil der untersuchte Proband im Gegenzug zu den anderen Fällen nachweisbare Schäden am Gehirn hat. Ein weiterer Unterschied: Der Mann lebt nicht sozial isoliert.

Gegenteil von Gesichtsblindheit?

Lange Zeit gingen Forscher davon aus, dass das Syndrom mit Prosopagnosie zusammenhängt. Dabei können Betroffene Gesichter nicht mehr bewusst erkennen. Die dafür zuständige Gehirnregion (Gyrus fusilformis) im Schläfenlappen ist bei dieser Erkrankung beschädigt. Im Unterschied dazu können Capgras-Patienten sehr wohl die Person erkennen, haben auf emotionaler Ebene jedoch das Gefühl, dass etwas nicht stimmt.

Daraus haben Haydn Ellis und Andrew Young Anfang 1990er Jahre in einer Studie geschlossen, dass das Capgras-Syndrom eine Art Spiegelung der Gesichtsblindheit ist. Sie gingen dabei von zwei Pfaden im Gehirn aus, die Gesehenes verarbeiten. Der eine (ventrale) Pfad verläuft von der Sehrindebis zum Temporallappen, der andere (dorsale) bahnt sich seinen Weg von der Sehrinde bis zur Amygdala, wo das gesehene Gesicht mit einer Emotion verknüpft wird.

Ist der erste Pfad beschädigt, tritt eine Gesichtserkennungsstörung auf, stimmt etwas mit dem anderen nicht, so kann das ein Hinweis auf das Capgras-Syndrom sein.

Neuer Theorieansatz

Ryan Darby und David Caplan haben eine andere Erklärung. Sie gehen davon aus, dass bei Syndromen wie Capgras interne und externe Wahrnehmungen falsch verknüpft sind. Dabei nimmt der Patient eine eigentlich vertraute Person, oder in diesem Fall ein vertrautes Tier, immer wieder als etwas Neues wahr. Anders gesagt: Er erkennt nicht, dass eine Person oder ein Tier über längere Zeit in seiner Identität bestehen kann.

Wie es dazu kommt und welche Rolle Haustiere darin spielen, müsse noch weiter erforscht werden, so die US- Neurowissenschaftler. Einen ersten Schritt dazu haben sie mit der Namenswahl ihrer Beobachtung bereits gemacht: In Anlehnung an das Capgras-Syndrom haben sie es „Cat-Gras-(Katzengras)-Syndrom“ genannt.

Claudia Chruszczyk, science.ORF.at

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