Die Präsenz von Messi und Co

Die Zukunft ist auch nicht mehr das, was sie einmal war: Früher ein Ort der Sehnsüchte und Utopien, heute eher bedrohlich. Der Literaturwissenschaftler Hans Ulrich Gumbrecht setzt daher lieber auf die „Präsenz“, das intensive Erleben der Gegenwart – sei es in der Literatur, bei Konzerten oder beim Fußball.

Gumbrecht zählt zu den führenden Literatur - und Kulturwissenschaftlern der Gegenwart. Er lebt seit Jahrzehnten in den USA, wo er an der Stanford University lehrt. Bekannt geworden ist Gumbrecht mit seiner positiven Einschätzung des American Way of Life, der für ihn eine erfrischende Alternative zum weit verbreiteten Kulturpessimismus europäischer, speziell deutscher Intellektueller darstellt.

Von der transatlantischen Perspektive aus arbeitet Gumbrecht an einer „Diagnose der Gegenwart“, die er auf Einladung des Humboldt-Studienzentrums Ulm in einem Vortrag entfaltete und darüber mit science.ORF.at sprach.

Ende historischer Weltbilder

Die Sinngebung der Welt, die sich auf historischen Konzeptionen aufbaut, scheitert in der Gegenwart – so lautet Gumbrechts Grundthese. Diese Sinngebung – der Versuch, Orientierungen in einer Epoche der Unsicherheit anzubieten –, wird immer noch als Aufgabe der Geisteswissenschaften angesehen.

So spricht etwa der deutsche Philosoph Jürgen Mittelstraß davon, dass das große Potenzial der Geisteswissenschaften darin bestehe, ein „Orientierungswissen“ auszubilden, das er dem „Verfügungswissen“ der universellen technisch-wissenschaftlichen Welt gegenüberstellt.

Genau diese vermeintliche Kompetenz der Geisteswissenschaften ist laut Gumbrecht verloren gegangen. Sie hängt eng mit dem historischen Weltbild zusammen, das im 19. Jahrhundert entstand und von der Voraussetzung ausging, dass wir uns von einer vermeintlich schlechten Gegenwart auf eine bessere Zukunft zu bewegen, die der Sozialismus oder der Kapitalismus ermöglichen sollte.

Die Gegenwart wurde somit auf einen kurzen Moment des Übergangs reduziert, der dazu genützt werden sollte, aus den Erfahrungen der Vergangenheit zu lernen und sie für Orientierungen zu nützen, die als Basis dienten, vielversprechende Optionen für die Zukunft auszuwählen.

Porträtfoto von Hans-Ulrich Gumbrecht 2015 in Stanford

CC-BY-SA 4.0 - Laura Teresa Gumbrecht

Biografie und Literatur

Hans Ulrich Gumbrecht wurde am 1948 in Würzburg als Sohn einer Urologenfamilie geboren. Er studierte Romanistik, Germanistik, Philosophie und Soziologie in München, Regensburg, Salamanca und Pavia. Mit 26 Jahren war er Professor an der Universität Bochum. 1989 wurde Gumbrecht auf den Lehrstuhl für Komparatistik an der privaten Eliteuniversität Stanford in Kalifornien berufen. Im Jahr 2000 nahm er die amerikanische Staatsbürgerschaft an und war als Gastprofessor an den Universitäten von Princeton, Berkeley, Montreal, Paris, Barcelona, Berlin Rio de Janeiro, Bogotá, Mexico City, Buenos Aires, Kapstadt und Kyoto tätig.

Bücher von Hans Ulrich Gumbrecht

Unsere breite Gegenwart, edition suhrkamp, Band 2627
Nach 1945. Latenz als Ursprung der Gegenwart, Suhrkamp Verlag
Präsenz, suhrkamp taschenbuch wissenschaft, Band 1942
Diesseits der Hermeneutik. Über die Produktion von Präsenz, edition suhrkamp, Band 2364
Lob des Sports, Bibliothek der Lebenskunst, Suhrkamp Verlag
1926. Ein Jahr am Rand der Zeit, suhrkamp taschenbuch wissenschaft, Band 1655
Die Macht der Philologie, Suhrkamp Verlag
Eine Geschichte der spanischen Literatur, Suhrkamp Verlag
Stimmungen lesen. Über eine verdeckte Wirklichkeit der Literatur, Edition Akzente Hanser
California Graffiti. Bilder vom westlichen Ende der Welt, Hanser Verlag

„Immer breiter werdende Gegenwart“

Als prototypisch für ein historisches Denken nannte Gumbrecht Hegels dialektisches Denken, das durch den Dreischritt „These-Antithese-Synthese“ den Bewegungsablauf der historischen Entwicklung vorantreibt. Auch die Utopie der klassenlosen Gesellschaft, von der Karl Marx träumte, passt in das Schema einer zielgerichteten Geschichtsbetrachtung.

Im Gegensatz zu den Repräsentanten eines historischen Weltbildes, die die Gegenwart nur als vernachlässigenswerte Größe betrachten, erfährt sie bei Gumbrecht eine Rehabilitierung und sogar Aufwertung. Er sprach von einer „immer breiter werdenden Gegenwart“, die mit der Explosion der elektronischen Medien zu tun hat.

Immer mehr Informationen, die die Individuen überschwemmen, sind ständig präsent und lassen eine Auswahl an möglichen Optionen gar nicht zu, einfach deswegen, weil es unmöglich ist, die Übersicht über die Datenflut zu gewinnen.

Die Zukunft – ein Bedrohungsszenario

Die „immer breiter werdende Gegenwart“ ist eine Welt der Kontingenzen, wie es der französische Philosophen Jean-Francois Lyotard prognostizierte. Er ortete ein Ende der „großen Erzählungen“ und sprach von einer „mobilisation générale“ – einer allgemeinen Bewegtheit, die Gumbrecht als „Zappeligkeit“ bezeichnet, die keine Richtung entwickelt, „in der sie Einzelveränderungen zu historischem Wandel aufaddieren“, wie er in seinem Buch „Präsenz“ schreibt.

Dazu kommt noch, dass die einst vielversprechende Zukunft aufgehört hat, eine Spielwiese für soziale oder politische Utopien zu sein. Die optimistischen Zukunftsvisionen einer perfekten Gesellschaft, die seit der Renaissance und der Aufklärung entfaltet wurden, sind einem globalen Bedrohungsszenario gewichen.

Angesichts der ökologischen Katastrophen der letzten Jahrzehnte sei der Glaube an eine individuell oder kollektiv zu steuernde Zukunft verloren gegangen, so Gumbrecht. Die Zukunft werde nicht mehr als ein Horizont von wählbaren Optionen erlebt, sondern als näher kommende und nicht vermeidbare Bedrohung.

Gumbrecht ist mit den Wissenschaftlern Paul J. Crutzen und Eugene F. Stoermer davon überzeugt, dass wir am Beginn des Anthropozäns stehen, in der die Menschheit zum bestimmenden Faktor der Natur geworden ist. Er schließt nicht einmal die Möglichkeit aus, dass am Ende dieser katastrophalen Entwicklung eine Welt ohne Menschen denkbar ist.

Präsenz – Erleben von Intensitäten

Angesichts dieser Diagnose empfiehlt Gumbrecht seine Konzeption der Präsenz, die er in einem eigenen Buch ausgeführt hat. Unter Präsenz versteht Gumbrecht das Erleben von Intensitäten, die verschiedene Ereignisse auslösen. Das können literarische und philosophische Texte sein, Kunstwerke, Theaterstücke, Konzerte und Fußball – oder Baseballspiele, die er besonders schätzt. Wesentlich ist das bedingungslose Eintauchen, das Verschmelzen mit diesen Intensitäten, die sich nicht begrifflich bestimmen lassen.

„Es gibt zwei Linien, die zu meinem Präsenz-Begriff geführt haben“, erläutert Gumbrecht gegenüber science.ORF.at. „Die eine ist die der ödipale Reaktion auf die hermeneutische Tradition – eine Genealogie, die von Heidegger über Gadamer bis zu meinem Doktorvater Hans Robert Jauß reicht, auf die ich ödipal reagiert habe. Diese Reaktion hat mich dazu gebracht, zu fragen, ob es nicht noch etwas Anderes gibt, als die hermeneutische Kunst der Interpretation und der endlosen Zuschreibung von Sinnvarianten. Diese Position habe ich Präsenz genannt“.

„Auf der anderen Seite besteht jene Dimension, die ich Spaß am Leben nenne. Seit frühester Jugend gibt es eine barocke Dimension der Sinnlichkeit in meinem Leben, ein Genießen des Lebens, das auch das Mitleiden am tragischen Schicksal anderer Menschen nicht ausschließt.“

Von Mozart bis American Football

Ein anschauliches Beispiel für die Generierung von Intensitäten, die auch in literaturwissenschaftlichen Seminaren stattfinden kann, gibt Gumbrecht in dem Aufsatz „Epiphanien“, der sich in dem Buch „Präsenz“ findet. Es geht ihm dabei, bei den Studentinnen und Studenten „Augenblicke der Intensität“ zu erzeugen, die ihn selbst besonders bewegt haben. Gumbrecht nennt als Beispiel „jene überströmende Süße, die mich manchmal überkommt, wenn eine Mozartarie zu polyphonischer Komplexität anwächst, und ich glaube, die Töne der Oboe mit meiner Haut zu hören“.

Diese „Augenblicke der Intensität“ erlebt Gumbrecht nicht nur bei der Rezeption ästhetischer Erfahrungen, sondern auch bei Sportereignissen, die er als begeisterter Enthusiast häufig besucht: „Ich möchte, dass meine Studenten sich den Moment der Bewunderung vorstellen können, den ich fühle, wie der Quarterback meiner Lieblingsmannschaft im College Football seine perfekt modellierten Arm reckt, um einen Touchdown-Pass zu feiern.“

Für Intensitäten ist Gumbrecht besonders dankbar. Für ihn, dem „der ausschließlich zerebrale Ton der akademisch-intellektuellen Welt, schon seit geraumer Zeit auf die Nerven geht“, wie er in seinem Buch „Lob des Sports“ betont, sind Begeisterung und Bewunderung für all diese Intensitäten diejenigen Elemente, die ihm das vermitteln, was man „Liebe zum Leben“ nennt.

Nikolaus Halmer, Ö1 Wissenschaft

Mehr zu dem Thema: