Schöner Leben in Atomograd

Mit dem Super-GAU von Tschernobyl vor 30 Jahren ist auch ein Stück sozialistischer Utopien in die Luft geflogen. In den sowjetischen Atomstädten („Atomograd“) sollten sich eine saubere Technik mit einem guten Leben verbinden – so lautete die Vision.

Kernkraft spielte dabei eine wichtige Rolle, wie sich schon sehr früh in der Geschichte des Sozialismus zeigt. So schrieb Alexander Bogdanow 1908 in seinem Roman „Der Rote Planet“: „Unser Sternschiff wird von radioaktiver Materie angetrieben, die wir auf dem Mars in großer Menge gewinnen. Wir haben eine Methode gefunden, den Zerfall der Elemente hunderttausendfach zu forcieren; das geschieht in unseren Motoren mit Hilfe ziemlich einfacher elektrochemischer Verfahren. Auf diese Weise wird gewaltige Energie freigesetzt.“

Auf zum Roten Planeten

Bogdanow war ein russischer Philosoph und Ökonom, mit Lenin einer der ersten Führer der Bolschewiken. Die Farbe seines utopischen Roten Planeten bezog sich nicht nur auf die Oberfläche, sondern auch auf das politische Projekt. Bogdanow skizziert in dem Roman auf der einen Seite eine utopische Gesellschaft, wie sie 250 Jahre nach der Überwindung des Kapitalismus aussehen könnte:

Die Marsbewohner arbeiten nicht aus Zwang, sondern aus Genuss und höchstens zwei Stunden am Tag, sie sprechen alle die gleiche Sprache, die Geschlechterunterschiede sind nahezu verschwunden. Auf der anderen Seite beschreibt Bogdanow, wie die Marsianer eine überragend fortschrittliche Technik zur Raumfahrt nützen – jene der Kernspaltung, die in Wirklichkeit erst drei Jahrzehnte nach dem Roman beherrschbar werden sollte.

Bogdanows Vision von Gesellschaft und Technik ist typisch für sozialistische Utopien. Die Technik ist laut marxistischer Wirtschaftstheorie Teil der Produktivkräfte. Und der Stand der Produktivkräfte zeigt den Entwicklungsgrad einer Gesellschaft. Viel zitiert ist der Spruch Lenins, was Kommunismus sei – nämlich „Sowjetmacht plus Elektrifizierung des ganzen Landes“.

Kontrollraum in Atomkraftwerk Tschernobyl

ORF/ZDF Enterprise/Alexander Detig

Kontrollraum: Nicht von einem Raumschiff, sonderm vom AKW Tschernobyl

Erstes Kernkraftwerk weltweit nahe Moskau

Die Utopie von Raumschiffen, die durch Kernspaltung angetrieben werden, passt dazu sehr gut, meint die Historikerin Anna Veronika Wendland vom Herder-Institut für Historische Ostmitteleuropaforschung in Marburg. „Diese Utopie verbindet zwei Dinge, nämlich Technologie und das Motiv der Überwindung natürlicher Grenzen: die Eroberung des Kosmos mit Nukleartechnik.“

1961 eroberte die Sowjetunion tatsächlich den Kosmos. Juri Gagarin war der erste Mensch im Weltraum, ein wichtiger Etappensieg im Wettstreit mit den Amerikanern. Im Propagandakrieg der beiden Systeme spielte die Kernenergie eine wichtige Rolle. Und zwar sowohl militärisch beim Bau von Atombomben als auch zivil, um Strom zu erzeugen. Das Kernkraftwerk Obninsk, rund 100 Kilometer von Moskau entfernt, war 1954 das erste der Welt.

Die Historikerin Anna Veronika Wendland im ukrainischen Kernkraftwerk Rivne im Mai 2015

Anna Veronika Wendland

Anna Veronika Wendland forscht zur Geschichte von Atomstädten und vergleicht Sicherheitskulturen in Ost und West. Sie hält sich deshalb u.a. als teilnehmende Beobachterin in ukrainischen und deutschen Kernkraftwerken auf: hier zu sehen im Kernkraftwerk Rivne.

Atomkraftwerke sollten aber nicht nur Strom liefern, sondern waren auch Anlass für städtebauliche Veränderungen. Das Konzept dazu stammt bereits aus den 20er Jahren: „Socgorod“, sozialistische Städte, gebaut für die Bedürfnisse der Arbeiterklasse. Ein Aushängeschild dafür wurde Magnitogorsk, die Eisen- und Stahlstadt am Ural, die in den 30er Jahren nach Plänen des deutschen Architekten Ernst May errichtet wurde. „In den 70er Jahren ist diese Idee wieder aufgetaucht, in Form der Atomograd, der zivilen Atomstadt“, erklärt Wendland.

Bestes Beispiel dafür ist Tschernobyl – bzw. Prypiat, denn so hieß die Werkstadt, die 1970 zum Bau des Kernkraftwerks im Norden der Ukraine gegründet wurde. „Das war das erste Kernkraftwerk der Ukraine und es wurde dementsprechend propagandistisch ausgeschlachtet. Prypiat galt als Flaggschiff und Lösung von Umweltproblemen – die Energiewirtschaft basierte auf Kohle und war dementsprechend dreckig. Die Kernkraft wurde als saubere Lösung propagiert und Prypiat als Vorbild für den Städtebau“, sagt Wendland. „Es wurde immer betont, wie jung das Durchschnittsalter der Bevölkerung ist, und dass 25 sowjetische Nationalitäten in dieser Stadt arbeiten.“

„Ein privilegiertes Leben“

Zwar gab es in Prypiat auch soziale Probleme – Arbeiter mussten jahrelang in Bauwagen leben, die Versorgung und der Nachschub funktionierten nicht immer – im Vergleich zu vielen anderen Orten der Sowjetunion war die Lage für die damals 35.000 Einwohner aber viel besser. „Viele sind auf Kauffahrt in die Atomstädte gefahren. Man wusste, dass es dort immer Kaffee oder andere Mangelwaren zu kaufen gab.“

Die „Atomstädter“ seien deshalb bevorzugt worden, weil die Kernkraftwerke sowohl ökonomisch als auch strategisch wichtig waren. In den Werkstädten wohnte ein Teil der technischen Elite der Sowjetunion, betont Anna Veronika Wendland:

„Das war Teil des sowjetischen Gesellschaftsvertrags: Man arbeitet in einer Industrie, die zwar bestimmte Risiken birgt, aber man bekommt auch Privilegien. Und dieser Gesellschaftsvertrag hat auch funktioniert. Die Sowjetunion hat geliefert, das Leben war dort angenehm: eine kleine grüne Stadt mit kurzen Wegen, ein relativ gute Versorgung, eine sozial sehr abgesicherte Arbeit. Das war für sowjetische Verhältnisse ein privilegiertes Leben.“

Szene aus der Geisterstadt Prypiat 2011: Ein Mensch steht in einem verfallenen Haus

APA - Helmut Fohringer

Szene aus der Geisterstadt Prypiat 2011

„Kerntechnik heute unangefochten“

Dieses privilegierte Leben war nach dem Super-GAU mit einem Schlag vorbei. Prypiat ist heute eine Geisterstadt. Die ideologische Begeisterung für die Kernkraft ist Geschichte.

Sendungshinweise

30 Jahre Tschernobyl widmen sich zwei Themensendungen der Ö1 Dimensionen: Teil 1 am 21.4. sowie Teil 2 am 22.4., jeweils um 19:05 Uhr.

Aus praktischen Gründen wird in der Ukraine aber weiter auf sie gesetzt. Da ist der Dauerstreit mit Russland, um Öllieferungen und Gebietsansprüche in der Ostukraine. Und da sind die Kohlekraftwerke, die schmutzige Energie liefern und einer wünschenswerten Klimapolitik entgegenstehen. 60 Prozent des Stroms kommen deshalb heute aus Atomkraftwerken, sagt die Historikerin Wendland. Das habe nichts mehr mit Utopien zu tun, sondern mit Pragmatismus.

„Wenn es um die nationale Souveränität und eine sichere Stromerzeugung geht, sagen heute viele in der Ukraine: ‚Irgendwo muss der Strom ja herkommen.‘“ Dementsprechend sei die Anti-Atombewegung nur sehr schwach entwickelt, ebenso Gegenkonzepte, die auf erneuerbaren Energieformen basieren. „Das ist zwar paradox im Land von Tschernobyl, aber die Kerntechnik steht in der Ukraine relativ unangefochten da.“

Lukas Wieselberg, science.ORF.at

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