Die Siegerzeit auf den Mont Ventoux

Steil, kahl, oft heiß und windig: So ist der Mont Ventoux im Südosten Frankreichs für Radfahrer. Heute ist sein Gipfel das Ziel einer Etappe der Tour de France. Ein US-Physiker hat schon vorher berechnet, wie lange der Sieger hinauf brauchen wird.

Der Mont Ventoux ist „ein Gott des Bösen, dem man opfern muss. Als echter Moloch, als Despot der Fahrer, verzeiht er niemals den Schwachen, lässt sich einen ungerechten Tribut an Leiden bezahlen“, schrieb Roland Barthes in den 50er Jahren. Der französische Philosoph billigte dem Radrennen in seinem Essay „Die Tour de France als Epos“ homerische Qualitäten zu.

„Etwas wie eine höhere Hölle“

Akteure des Epos seien nicht nur die Rennfahrer, sondern auch die Hindernisse, die es zu überwinden gilt. „Körperlich ist der Ventoux entsetzlich: kahl, er ist der Geist des Trockenen schlechthin; sein absolutes Klima macht aus ihm ein verdammtes Gelände, einen Ort der Prüfung für den Helden, etwas wie eine höhere Hölle, in der der Fahrer die Wahrheit über sein Heil festlegen wird.“

Ö1 Sendungshinweis

Dem Thema widmet sich auch ein Beitrag in Wissen aktuell: 14.7., 13:55 Uhr.

Wie prophetisch die Worte Barthes‘ waren, zeigte sich ein Jahrzehnt später: Der britische Rennfahrer Tom Simpson, ehemals Weltmeister und Führender der Tour de France, starb 1967 knapp vor dem Gipfel des Mont Ventoux. Sein Herz wollte nicht mehr weiterschlagen, geschwächt durch die Hitze, die Strapazen und – wie sich später herausstellte – einen Dopingcocktail aus Alkohol und Amphetaminen.

Fahrer der Tour de France 2009 auf dem Weg zum Gipfel des Mont Ventoux

Stephane Mantey / AFP / picturedesk.com

Fahrer der Tour de France 2009 auf dem Weg zum Gipfel des Mont Ventoux

Vielleicht liegt es an diesen Mythen und Tragödien, dass der Berg erst zum 16. Mal auf dem Programm der Tour de France steht: Heute, am 14. Juli, dem französischen Nationalfeiertag, ist es jedenfalls wieder soweit: Der 1.912 Meter hohe Mont Ventoux, im Südosten Frankreichs gelegen und die Provence überragend, ist Etappenziel.

58 Minuten und 54 Sekunden

Ausgehend von der kleinen Gemeinde Bedoin müssen auf rund 22 Kilometern 1.600 Höhenmeter überwunden werden. Das bedeutet eine Durchschnittssteigung von 7,5 Prozent, an vielen Stellen ist es mit mehr als zehn Prozent aber deutlich steiler. Die Hitze wird laut Wetterprognose heute kein Problem sein, dafür soll es heftigen Wind geben – der Ventoux dürfte seinem Namen also alle Ehre machen.

Gegenwind ist einer der wenigen Parameter, die John Eric Goff für seine Prognose der heutigen Auffahrtszeit nicht berücksichtigt hat: 58 Minuten und 54 Sekunden, so lange wird der Beste heute hinauf auf den Ventoux brauchen, hat der Physiker vom Lynchburg College und der Universität Sheffield errechnet.

(Anm. Wegen des zu erwartenden heftigen Windes haben die Organisatoren am Mittwoch angekündigt, den Anstieg und somit die Etappe um sechs Kilometer zu verkürzen: Goff schätzt deshalb die neue Auffahrtzeit auf 41 Minuten und 2 Sekunden.)

Streckenprofil der Tour de France Etappe vom 14.7.2016

Le Tour de France

Streckenprofil der Tour de France Etappe vom 14.7.2016

Schon seit einigen Jahren sagt Goff für alle Etappen der Tour de France die Siegerzeiten voraus. Er hat dazu Studien veröffentlicht (etwa hier oder hier) und berichtet täglich über Erfolge und Misserfolge seiner Methode auf seinem Blog. Sie basiert nicht auf individuellen Faktoren – etwa der Leistung bestimmter Fahrer, sondern auf purer Physik und Mathematik.

Grundlage sind die Streckenprofile der einzelnen Etappen. Zwischen bestimmten, unterschiedlich hohen Punkten (etwa zwischen Mazan und Bedoin oder Bedoin und dem Gipfel, siehe Karte oben) stellt Goff zuerst eine Reihe von schiefen Ebenen her. Deren Formeln füttert er dann mit bekannten Daten wie Steigungswinkel, Längen und Kräften.

Prognose mit Hilfe von Newton

„Ich gehe dabei nicht von bestimmten Fahrern aus, sondern von den Durchschnittskräften, die Fahrer haben, die auf bestimmten Etappen gewinnen können. Bei Bergetappen wie auf den Mont Ventoux sind das kleinere Fahrer mit einem Gewicht von weniger als 65 Kilogramm, so wie der derzeit Führende Christopher Froome“, erklärt Goff gegenüber science.ORF.at.

„Dazu kommen aerodynamische Daten zu den Fahrrädern, der Rollwiderstand der Reifen auf den Straßen. Das alles setzen wir in die zweite Newtonsche Gesetz ein und berechnen so die Zeit, die ein Spitzenfahrer für eine bestimmte Etappe brauchen sollte.“

Das Modell funktioniert ziemlich gut, sagt Goff. „Im vergangen Jahr haben wir sieben Etappen mit weniger als einem Prozent Genauigkeitsfehler vorhergesagt, acht hintereinander mit weniger als zwei Prozent.“ Heuer funktioniert die Prognose bisher weniger gut. Vielleicht wird sich das heute ja ändern: Vier Stunden, 55 Minuten und 23 Sekunden, so lange soll der Sieger der Etappe über die 184 Kilometer insgesamt brauchen , knapp 59 Minuten für die letzten 22 Kilometer des Aufstiegs. (Anm. Bei verkürzter Strecke: 4h 37' 31" Gesamtzeit, 41'02" Auffahrtszeit).

Nairo Quintana und Christopher Froome, die beiden Favoriten der Tour de France 2016

APA/AFP/Kenzo Tribouillard

Nairo Quintana und Christopher Froome, die beiden Favoriten der Tour de France 2016

Quintana, die individuelle Vorhersage

Das wäre (bei Originalstreckenlänge) um vier Minuten langsamer als die aktuellen Rekordhalter: Wie einschlägige Listen zeigen, stammen die Bestzeiten aus den (besonders) dopingverseuchten Jahren rund um die Jahrtausendwende – möglicherweise ein gutes Zeichen für den Radsport, dass es nun vermutlich etwas länger dauern wird.

Im Gegensatz zu den Vorjahren wagt Goff, selbst passionierter Radrennfahrer aus den USA, heute auch eine individuelle Prognose: „Ich weiß nicht, warum der Kolumbianer Nairo Quintana heute nicht gewinnen sollte. Unsere physikalischen Vorhersagen beziehen sich zwar nicht auf einzelne Fahrer, aber es macht Spaß, auch einmal einen bestimmten Sieger vorherzusagen.“

Lukas Wieselberg, science.ORF.at

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