Wie aufgeklärt ist die Aufklärung?

Die Aufklärung gilt als Zeitalter, das zur Erhellung des menschlichen Verstandes geführt hat. Doch das ist nur die halbe Wahrheit, betont die Philosophin Karoline Feyertag: In einem Gastbeitrag wirft Sie einen Blick auf die dunklen Seiten der „geistigen Erhellung“.

Mythos Aufklärung – eine feministische Perspektive

Von Karoline Feyertag

Das diesjährige Forum Alpbach heftet sich eine „neue Aufklärung“ auf seine Fahnen – doch wessen Aufklärung wird das sein? Jene der Eliten oder der Subalternen, der Finanzmanager oder der Analphabeten, der Flüchtlinge oder der Sesshaften, der Männer, der Frauen oder gar der Kinder?

Philosophin Karoline Feyertag

Karoline Feyertag

Die Autorin

Karoline Feyertag ist Philosophin und Mitarbeiterin im FWF-PEEK-Projekt „Dizziness-A Resource“ an der Akademie der Bildenden Künste in Wien. Sie war externe Lektorin am Zentrum für Frauen- und Geschlechterforschung an der Universität Klagenfurt.

Spätestens 1793, als die französische Feministin avant la lettre Olympe de Gouges wegen ihrer politischen Schriften, ihrer Anklage der Sklaverei und ihrer Deklaration der Frauenrechte in Paris enthauptet wurde, war auch die Sprengkraft der „neuen Aufklärung“ des 18. Jahrhunderts verpufft. Seitdem verstricken sich Realpolitik, politische Bewegungen und wissenschaftliche Theorien zunehmend in den Widersprüchen von Gleichheit und Differenz.

Andreas Pečar formulierte in seinem Artikel „Vom Aufklären“ in der „Presse“ in Hinblick auf den (Post-)Kolonialismus: „Aufklärung war und ist eine Ideologie zur Durchsetzung und zur Verschleierung von politischer Unterdrückung.“

Olympe de Gouges hatte darauf aufmerksam gemacht, dass die allgemeine Deklaration der Bürger- und Menschenrechte gar nicht allgemein war, da sie sich nur an den männlichen Bürger richtete. Damit lenkte sie das Augenmerk auf jene Differenz, die vor allen anderen Differenzen kommt und als „natürliche“ am allerwenigsten von der Aufklärung hinterfragt wurde: die Geschlechterdifferenz.

Männliche Vernunft - weibliche Irrationalität?

Aufklärung bedeutet nicht allein die Erhellung des menschlichen Verstandes anhand vernünftiger Argumentation. Aufklärung bedeutet – zumindest im deutschen Sprachgebrauch – auch die Aufklärung der Heranwachsenden über Sexualität.

Das Sozialgefüge der Geschlechter, dem sich junge Menschen fügen müssen, ist allerorten streng reglementiert. In Europa hat sich seit der Zeit der Renaissance die Rede von der Zweigeschlechtlichkeit durchgesetzt. Dem war nicht immer so, und es darf bezweifelt werden, dass dieser aufgeklärt-aufklärende Diskurs vernunftgeleitet war.

Vielmehr kann ihm unterstellt werden, dass er zur Rechtfertigung der männlichen Vormachtstellung instrumentalisiert wurde. Die Rede von der Zweigeschlechtlichkeit wird seit dem 18. Jahrhundert wissenschaftlich untermauert, juristisch instruiert und politisch exekutiert.

Sie erlaubt es, der Vernunft männliche Attribute wie Strenge, Genauigkeit, Logik und Sachlichkeit zu verleihen. Im selben Atemzug wurde mit der Irrationalität das nötige weibliche Pendant zur männlichen Vernunft entworfen.

Wie Thomas Laqueur ausgeführt hat, löste das Modell der Zweigeschlechtlichkeit jenes der Eingeschlechtlichkeit ab. Seit der Antike wurde die Frau als unvollendeter und invertierter Mann gesehen. Ihre Geschlechtsorgane waren vor den ersten anatomischen Sektionen in der Renaissance nur den Hebammen bekannt, Ärzte stützten sich auf Galens Theorie der Vier-Säfte-Lehre und auf die Vorstellung eines einzigen, mehr oder weniger entwickelten Geschlechts, nämlich des Penis.

Mit der wissenschaftlichen Entdeckung des Uterus wurde die Frau schlagartig zum ganz Anderen des Mannes. Sie sei ihrem Geschlechtsorgan und dessen „Launen“ unterworfen, gewissermaßen eine Gefangene ihrer eigenen Sexualität.

Wissenschaft als Herrschaftssystem

Diese neue Lehre von der Zweigeschlechtlichkeit prägt seit der Aufklärung jegliche philosophische Dichotomie, sei es jene zwischen Vernunft und Gefühl, Rationalität und Emotionalität, Körper und Geist, Natur und Kultur, Öffentlich und Privat oder Wissenschaft und Kunst.

Seminare beim Forum Alpbach

Im Rahmen des Europäischen Forums Alpbach ist Karoline Feyertag am 31.8. eine der Sprecherinnen im Seminar „Macht und Mythos der Kreativität“. science.ORF.at stellt dieses und weitere Seminare in Form von Gastbeiträgen vor.

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Ö1-Hinweise

Eine Reihe von Sendungen begleitet das Europäische Forum Alpbach 2016 in Ö1. Die Technologiegespräche stehen im Mittelpunkt von Beiträgen in den Journalen, in Wissen aktuell, in den Dimensionen und bei der Kinderuni.

Mitglieder des Ö1 Club erhalten beim Europäischen Forum Alpbach eine Ermäßigung von zehn Prozent.

Eine Folge dieser wirkungsmächtigen Kategorien war der Ausschluss der Frauen aus der Öffentlichkeit. So baute die Medizin nicht auf dem Wissen der Hebammen auf, sondern schloss vielmehr Hebammen von den akademischen Curricula aus. Erst mühsam wurde schließlich im 18. Jahrhundert dieses verloren gegangene Wissen wiederentdeckt.

Michel Serres bemerkt im Gespräch mit Bruno Latour zum Vernunftbegriff der Aufklärung trocken: „Das Zeitalter der Aufklärung hat nicht unerheblich dazu beigetragen, alle Vernunft, die nicht von der Wissenschaft gebildet wird, ins Irrationale zu verstoßen.“

Zur erhellenden Aufklärung dieses wissenschaftspolitischen Hintergrunds: Europäische Männer waren zu Beginn der Aufklärung in die Defensive geraten.

In der Zeit der Renaissance hatte sich nämlich nicht nur der Ausschluss der Frauen aus Wissenschaft und Politik angebahnt, sondern auch die Konstitution des modernen Europas anhand von Kolonialismus, Gegenreformation und Kreuzzügen.

Die Erfahrung der Aufklärung bestand demnach in der Schöpfung einer Identität, die sich nur im Kampf gegen andere Identitäten behauptet. Europa und Männer, sowie Vernunft und Menschenrechte könne es nur unter der Bedingung geben, dass anderswo Unvernunft, Grausamkeiten und „Weiberwirtschaft“ walten. Ein derart aggressives Bedürfnis nach Selbstbehauptung und Vormachtstellung kann jedoch nur entstehen, wenn sich diese vermeintliche Vormacht (Europas und der Männer) schwach und bedroht fühlt.

Bedrohte Männlichkeit

Eine der Parallelen zwischen der Aufklärung im 18. Jahrhundert und dem heutigen Ruf nach einer neuen Aufklärung liegt wahrscheinlich in diesem Bedrohungsszenario. Die traditionellen europäischen Werte und gesellschaftlichen Normen werden nicht zuletzt durch die queer und postcolonial studies in ihren Grundfesten erschüttert. Orientierungslosigkeit macht sich breit, konstatiert das Forum Alpbach. An was können wir heute noch glauben?

An die Vernunft zu glauben wurde uns in Europa schon von Freud und spätestens angesichts der Weltkriege von Adorno und Horkheimer ausgeredet. An die zwei Geschlechter und die Heteronormativität zu glauben wird uns nun von queeren Aktivist*innen ausgeredet, die noch dazu die deutsche Rechtschreibung und den männlichen Plural auf den Kopf stellen.

Und an Gott zu glauben wird uns in Europa angesichts des ständig wachsenden Fundamentalismus jeder Couleur auch sehr schwer gemacht – abgesehen vom vielzitierten Tod Gottes im 19. Jahrhundert.

Wer kann uns also noch helfen? In der heutigen politischen Ausweglosigkeit scheint die Welt zu taumeln und Kopf und Orientierung zu verlieren. Kein Kompass, kein GPS, kein Navi kann uns den Weg aus der Krise zeigen. Die Rückkehr zu klaren und eindeutigen Oppositionen zwischen Geschlechtern, Rassen und Klassen ist kein Ausweg.

Wir müssen vielmehr beginnen, Taumel und Orientierungslosigkeit als konstitutive Bestandteile der conditio humana anzuerkennen und den Logos der Aufklärung als Mythos zu begreifen.

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