Was ist Aufklärung – und was war sie?

Brauchen wir eine „Neue Aufklärung“? So lautet zumindest das Thema des Forums Alpbach, das am 18.8. in Tirol eröffnet wurde. Der Historiker Andreas Pečar warnt in einem Gastbeitrag davor, den Begriff aus dem 18. Jahrhundert leichtfertig auf die Gegenwart zu übertragen.

Die Aufklärung wird in gegenwärtigen Debatten immer wieder gerne bemüht. Hier seien die politischen Werte und Normen geboren worden, auf die wir uns heute in der westlichen Welt berufen, hier sei gegen die Konfessionskirchen die Freiheit des Geistes erkämpft worden, die für unsere heutigen politischen und wissenschaftlichen Debatten grundlegend ist, alles im Namen der Aufklärung und der Vernunft.

Porträtfoto des Historikers Andreas Pecar

Andreas Pecar

Der Autor

Andreas Pečar ist Professor für die Geschichte der Frühen Neuzeit an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg und jüngst einer der beiden Autoren des Bandes „Falsche Freunde. War die Aufklärung wirklich die Geburtsstunde der Moderne?“ (Campus-Verlag). Vor Beginn des Forums Alpbach hat sich eine Debatte über die Rolle der Aufklärung entwickelt, an der sich neben Andreas Pečar u.a. auch Konrad Paul Liessmann und Isolde Charim beteiligt haben.

Dieses Aufklärungsbild wird immer dann beschworen, wenn es den Anschein hat, als ob die westliche Welt insgesamt attackiert werde oder aber die Identität der westlichen Welt verhandelt wird: bei den Terrorangriffen des IS, aber auch bei der Auseinandersetzung über das Kopftuch muslimischer Frauen, bei der Frage nach einer möglichen Mitgliedschaft der Türkei in der EU, in der Flüchtlingsdebatte etc. Mir geht es als Historiker darum, welche Folgen eine solche Vereinnahmung einer historischen Epoche für unser Bild von der Aufklärung und vom 18. Jahrhundert hat.

Die Rolle der Philosophen

1. Wenn man unterstellt, die Aufklärer seien im 18. Jahrhundert für unsere heutigen politischen Normen und Werte eingetreten, dann enthebt man sie ihrer eigenen Zeit: Sie sind dann, zumindest in ihren politischen Aussagen, eher unsere Zeitgenossen als Mitglieder ihres eigenen Jahrhunderts. Die Aufklärer werden so zur Avantgarde ihrer Zeit erklärt.

2. Dieses Bild einer Avantgarde haben die Aufklärer selbst von sich geprägt. Sie gingen im 18. Jahrhundert zwar den unterschiedlichsten Tätigkeiten und Berufen nach, wählten aber, wenn sie sich als Aufklärer in der Öffentlichkeit zu Wort meldeten, immer dieselbe Rolle: die eines Philosophen – heute würde man sagen, die eines Intellektuellen. Und als Philosoph beanspruchte man für sich, im Namen der Vernunft das Wort zu erheben, um damit zur Verbesserung der Welt beizutragen.

3. Die Kernbegriffe der Aufklärung – Philosophie, Vernunft, Verbesserung der Menschheit – verdanken sich also wesentlich einer bestimmten Rolle: der des Philosophen. Notwendig waren die Begriffe Vernunft und Weltverbesserung, da sie der Rolle des Philosophen Legitimität verliehen. Als Anwälten der Vernunft und der Weltverbesserung musste man den Philosophen zugestehen, sich in der Öffentlichkeit zu Wort melden zu dürfen, ja mehr noch: Man musste ihnen zuhören und möglichst danach auch in ihrem Sinne handeln.

Übernahme ihrer Selbstlegitimation

4. Wenn von der eigenen Gegenwart, also der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, die Rede ist, so prägten Philosophen wie Kant dafür gerne den Begriff eines „Zeitalters der Aufklärung“. Dieser Begriff suggeriert nicht nur, dass Philosophen sich im Namen von Vernunft und Weltverbesserung zu Wort meldeten, sondern auch, dass sie damit eine breite Zuhörerschaft fanden und ihre Reden politische Folgen nach sich zogen.

5. Reden wir also heute von einer „Epoche der Aufklärung“, so ist dieser Begriff eng verknüpft mit der Vorstellung, dass sich in dieser Zeit die Vernunft – dank der Tätigkeit der Philosophen, also der Aufklärer – langsam durchgesetzt habe und damit die Welt verbessert wurde. Wir übernehmen also – häufig ohne darüber genauer nachzudenken – die Selbstinszenierung der Aufklärer und ihre Art der Weltdeutung.

Forum Alpbach

Zu Beginn der des Europäischen Forums Alpbach hält Andreas Pečar am 17.8. einen der beiden Eröffnungsvorträge. science.ORF.at stellt einige Vorträge in Form von Gastbeiträgen vor. Bisher erschienen:

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6. Wir übernehmen das Vokabular der Aufklärer auch dann unreflektiert, wenn wir deren Äußerungen als Manifestationen der Vernunft ansehen. Vernunft und Wahrheit sind Kernbegriffe für das Rollenverständnis eines Philosophen, und sie haben für polemische Auseinandersetzungen einen weiteren entscheidenden Vorzug: Wenn man sich selbst zum Sachwalter der Vernunft erklärt, delegitimiert man damit automatisch die Positionen der eigenen Widersacher – diese können dann ja nur noch Sachwalter der Unvernunft sein, oder der Vernunft aufgrund von persönlichen Eigeninteressen zuwiderhandeln.

7. Wenn wir heute aber die Aufklärer als Fürsprecher der Vernunft in Verbindung bringen, so denken wir nicht mehr nach über die Kontroversen, in denen sich die Philosophen behaupten mussten, und über die rhetorischen Strategien, die sie dabei wählten, sondern wir erklären sie in einem scheinbar objektiven Sinne zu Anwälten der Vernunft. Damit übernehmen wir aber ungeprüft die Selbstlegitimierungsstrategien bestimmter Akteure im 18. Jahrhundert und verwandeln deren Positionen in eine Begriffssprache der Wissenschaft – aus polemischen Abgrenzungsbegriffen werden so analytische Urteile der Aufklärungsforschung.

Wissenschaft statt Kanonbildung

8. Diese Verfestigung unseres Bilds von den Aufklärern als Fürsprechern der Vernunft führt zu einem Prozess der Kanonbildung: Hervorgehoben werden diejenigen Autoren, Schriften und Ereignisse, die unser Bild von den Aufklärern als Fürsprechern der Vernunft bekräftigen – Schriften und Ereignisse, die diesem Bild entgegenstehen, sind uns dagegen häufig weit weniger geläufig, werden weniger untersucht und gerne in der Debatte ausgespart.

Ö1 Hinweise

Eine Reihe von Sendungen begleitet das Europäische Forum Alpbach 2016 in Ö1. Die Technologiegespräche stehen im Mittelpunkt von Beiträgen in den Journalen, in Wissen aktuell, in den Dimensionen und bei der Kinderuni.

Mitglieder des Ö1 Club erhalten beim Europäischen Forum Alpbach eine Ermäßigung von zehn Prozent.

9. Kanonbildung und das Beschwören von Traditionen ist aber ohnehin keine Aufgabe der Wissenschaft. Unsere Aufgabe als Historiker und als Aufklärungsforscher sollte sein, die Autoren und ihre Schriften in ihren jeweiligen historischen Kontexten zu verstehen – nicht diese Kontexte auszublenden. Wir sollten die rhetorischen Strategien der Aufklärer und ihre Rolleninszenierungen analysieren und kritisch interpretieren, nicht aber diese Inszenierungen für das Abbild der Wirklichkeit halten und als scheinbar objektive Tatsachen weiter verkünden.

10. Die Suche nach dem einen Ursprungsort unserer heutigen politischen Normen und Werte ist gleichfalls ein müßiges Unterfangen. Hat etwa die Goldene Regel (niemand solle anderen zufügen, was er selbst nicht erleiden möchte) ihre Ursprünge in Kants kategorischem Imperativ, im Matthäusevangelium, in der jüdischen Thora oder in altorientalischen Weisheitslehren?

Wissenschaftlich ist diese Frage müßig. Erinnerungspolitisch kann sie aber dazu genutzt werden, je spezifische Wurzeln unserer heutigen Gegenwart zu betonen – die Aufklärung, das Christentum, das Judentum oder noch ältere Wurzeln der Menschheitsgeschichte. In solchen Erinnerungskämpfen spielt der Bezug auf die Aufklärung eine große Rolle. Solche erinnerungspolitischen Debatten dienen dazu, die Legitimität bestimmter Positionen, bestimmter Gruppen und Akteure oder bestimmter politischer Einheiten, Länder, Nationen herauszustellen und die eigene Identität auf Kosten der von der Ursprungserzählung Ausgeschlossenen zu steigern.

Diese Form der Identitätsbildung erfolgt jedoch auf Kosten der historischen Erkenntnis, kolonisiert gewissermaßen die historischen Zeitgenossen des 18. Jahrhunderts und macht sie zu Sklaven heutiger politischer Interessen. Als Historiker ist es mein Ziel, die Geschichte der Aufklärung aus dieser Versklavung zu befreien.

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