Steigbügelhalter für den Neoliberalismus

Wenn in den nächsten Tagen wieder die Nobelpreise verliehen werden, sticht einer heraus: jener für Ökonomie. Seit seiner Einführung 1969 ist er umstritten, die Folgen für die Disziplin und Wirtschaft sind „desaströs“ – so die These eines neuen Buchs.

Denn der „Wirtschaftsnobelpreis“ habe zur neoliberalen Wende in Ökonomie und Politik beigetragen und die habe in die heutige Finanzkrise geführt.

Es begann als PR-Aktion für eine Bank

Die Wirtschaft, so heißt es von Alfred Nobel, dem schwedischen Erfinder und Chemiker, soll er „von Herzen gehasst haben“. Mit Sicherheit hat er nicht gewollt, dass für sie ein Preis in seinem Namen verliehen wird, denn laut seinem Testament soll das nur der Fall sein in den Fächern bzw. Bereichen Medizin, Chemie, Physik, Literatur und Friedensbemühungen. Knapp 70 Jahre nach der Verleihung der ersten Nobelpreise war dies dennoch der Fall.

Porträtfoto des Wirtschaftshistorikers Avner Offer

Princeton University Press

Avner Offer, Wissenschaftshistoriker an der Universität Oxford

Die Vorgeschichte: 1968, während der Vietnamkrieg tobt und die Jugend in Europa und Nordamerika aufbegehrt, hat die Schwedische Reichsbank ein Luxusproblem. Sie will ihr 300-Jahr-Jubiläum feiern, doch kaum jemanden scheint das zu interessieren. Da hat Per Asbrink, der Gouverneur der Reichsbank, eine geniale Idee. Für den runden Geburtstag soll in Stockholm ein neuer Preis ausgelobt werden: ein Nobelpreis in den Wirtschaftswissenschaften, mit dem gleichen Auswahlverfahren wie bei den anderen Preisen. Asbrink überzeugt seine sozialdemokratischen Parteifreunde in der Regierung, und so gibt es ab 1969 eine Art „Wirtschaftsnobelpreis“ – mit Konsequenzen, die so nicht beabsichtigt waren.

„Die schwedischen Sozialdemokraten dachten bei Einführung des Preises, dass die Ökonomen auf ihrer Seite stehen. Der bekannteste und einflussreichste Ökonom Schwedens, Gunnar Myrdal, war selbst Sozialdemokat und Regierungsmitglied“, erzählt der Wirtschaftshistoriker Avner Offer von der Universität Oxford gegenüber science.ORF.at. „Sie haben deshalb nicht lange nachgedacht, wollten Asbrink ruhigstellen und haben deshalb den neuen Preis unterstützt. Wahrscheinlich hat auch der Gouverneur nicht geahnt, wohin sein Versuch – PR für seine Bank zu machen – einmal führen sollte.“

Schweden – das „sozialdemokratischeste“ Land weltweit

Die Konsequenzen des „Preises der schwedischen Reichsbank in Wirtschaftswissenschaft zur Erinnerung an Alfred Nobel“, wie er wörtlich heißt, waren weitreichend und standen im Widerspruch zu den Ideen ihrer Erfinder. Denn dank Jahrzehnten sozialdemokratischer Wohlfahrtspolitik ist Schweden Ende der 60er Jahre das viertreichste Land der Welt.

Cover des Buchs „The Nobel Factor"

Princeton University Press

Avner Offer, Gabriel Söderberg: „The Nobel Factor: The Prize in Economics, Social Democracy, and the Market Turn”, Princeton University Press

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Es herrscht Vollbeschäftigung, die Mieten sind leistbar, die soziale Ungleichheit ist gering. Doch mit dem „Wirtschaftsnobelpreis“ entsteht ein Instrument, das sich gegen diese Werte der Sozialdemokratie wendet. Nicht gleich in den ersten Jahren, aber im Lauf der Zeit wird aus dem PR-Mittel der schwedischen Reichsbank ein Werkzeug neoliberaler Politik. Das ist die Hauptthese eines neuen Buchs, das Offer mit seinem Kollegen Gabriel Söderberg von der Universität Uppsala soeben veröffentlicht hat. „Der Nobelpreis hat den Wirtschaftswissenschaften den Nimbus von wissenschaftlicher Autorität verliehen“, sagt Offer. „Man braucht nicht mehr länger darüber zu streiten, was Wirtschaftspolitik tun oder lassen sollte, denn nun gibt es ja die Preisträger. Und mit ihnen ein Expertenwissen, das ausgezeichnet ist und auf das man sich immer berufen kann.“

Preisträger nur scheinbar ausgewogen

Der Preis habe die Autorität von wirtschaftlichen Argumenten enorm gestärkt – und dazu beigetragen, wie sich die Wirtschaftspolitik weltweit ab den 70er Jahren entwickelt hat. Die Stichworte sind bekannt und lauten: privat statt Staat, Märkte statt sozialer Sicherheit, privatisierte Gewinne und vergesellschaftete Verluste. Die Stichwortgeber kommen oft aus dem Kreis der „Nobelpreisträger“. Damit sie das tun können, hat das Nobelpreiskomitee eine sehr raffinierte Strategie angewendet. Es ging bei der Auswahl der Preisträger nämlich strikt ausgeglichen vor: Auf einen marktliberalen Ökonomen kam einer mit sozialdemokratischen Werten. Auf einen Vertreter der Chicago-Schule kam ein Keynesianer, auf einen rechten ein linker usw.

Diese Balance hat aber einen Haken, sagt der Wirtschaftshistoriker Avner Offer: „Die Ausgeglichenheit, die das Nobelpreiskomitee durch die Auswahl der Preisträger erreicht hat, entspricht nicht den tatsächlichen Verhältnissen der Disziplin. Denn unter Wirtschaftswissenschaftlern weltweit sind neo- und marktliberale Vorstellungen in der Minderheit. Wir haben das gemessen: Rund zwei Drittel aller Ökonomen vertreten sozialdemokratische Werte.“

Hayek wurde von Nobelpreis gerettet

Ein besonders gutes Beispiel dieser Pseudo-Ausgeglichenheit ist das Jahr 1974, in dem gleich zwei Männer – bis heute sind es mit einer Ausnahme ausschließlich Männer – ausgezeichnet werden. Zum einen der schwedische Sozialdemokrat Gunnar Myrdal, zum anderen der österreichische Marktfundamentalist Friedrich Hayek.

Ö1 Sendungshinweis

Dem Thema widmet sich auch ein Beitrag im Dimensionen Magazin, 30.9., 19:05 Uhr.

Neben dem zwei Jahre später ausgezeichneten Milton Friedman ist Hayek der wichtigste Vordenker neoliberaler Reformen, die später von Reagan, Thatcher und Co politisch umgesetzt wurden. Für Hayek war der Nobelpreis die Rettung, sagt Avner Offer: „Friedman war auf dem Höhepunkt seines Einflusses in der Ökonomie, als er den Preis bekam. Hayek hingegen hatte den längst hinter sich. Das zeigt die Anzahl seiner Zitate in der wissenschaftlichen Literatur. 1974 war sein Zenit eigentlich überschritten. Aber durch den Nobelpreis wurde er wieder öfter zitiert. Der Preis hat seinem Ruf genützt wie keinem anderen.“

Steuern: Schlachtfeld der Ideologien

Dass diese Rufsteigerung nicht im Elfenbeinturm der Akademie verblieb, ist eine Besonderheit der Ökonomie. Im Gegensatz zu Medizin, Chemie oder Physik betrifft die Ökonomie jedermann. Und zwar zum Teil unmittelbar. Wenn mit der Reputation eines „Nobelpreises“ Ausgezeichnete etwa für „weniger Steuern“ plädieren, dann werden ihre Argumente mehr gehört. Das Argument, wonach „weniger Steuern“ letztlich zu „mehr Wohlstand“ führen, stammt aus dem Arsenal der Nobelpreisträger.

Avner Offer: „Die klassisch sozialdemokratische Wirtschaftspolitik braucht hohe progressive Steuern. In der neoklassischen Standard-Ökonomie werden Steuern hingegen als verzerrende Anreize betrachtet. Sie gelten deshalb als ineffizient. Der schottische Ökonom James Mirrlees hat das theoretisch begründet – mit fragwürdigen Argumenten, wie ich meine. Mirrlees hat den Nobelpreis erhalten und seine Argumentation, dass niedrige Steuern effizienter sind als hohe, war sehr einflussreich.“

Mit dem Ruf nach mehr Steuern kann man heute keine Wahlen gewinnen. Die dahinter stehende Idee der Umverteilung – von oben nach unten – ist gründlich diskreditiert. Heute sehen wir das Gegenteil, die Ungleichheit in der Gesellschaft nimmt zu, das von den Neoliberalen erhoffte Plus an Wirtschaftswachstum ist auch nicht eingetreten. Dass sich dieses Denken ausgerechnet dann durchgesetzt hat, als ein Nobelpreis für Ökonomie eingerichtet wurde, ist kein Zufall.

„Die Einrichtung des Preises war erst ein kleiner Unfall, fast ein Scherz. Dann aber haben sich die neoliberale Wende und der Preis gegenseitig verstärkt“, meint der Wirtschaftshistoriker Offer. „Dass freie Märkte am effizientesten sind und der Einfluss des Staates in die Politik minimiert werden muss: Diese Überzeugungen waren sowieso im Kommen. Aber der Nobelpreis hat zum Erstarken des Neoliberalismus beigetragen.“

Lukas Wieselberg, science.ORF.at

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