Der Roman auf dem Weg durch die Institutionen

Bildungsromane wie Goethes „Wilhelm Meisters Lehrjahre“ zeigen, wie sich eine Hauptfigur entwickelt. Ganz anders sind „Institutionenromane“ von Kafka und Co, wie sie der Germanist Rüdiger Campe in einem Gastbeitrag beschreibt.

Romane seit dem Anbruch der Neuzeit haben es direkter als andere Formen der Literatur damit zu tun, wie wir uns als biologische, soziale oder politische Lebewesen wahrnehmen und verstehen.

Porträtfoto des Germanisten Rüdiger Campe

IFK/Rüdiger Campe

Der Autor

Rüdiger Campe ist Professor für deutsche Literatur an der Yale University und derzeit IFK_Gast des Direktors am IFK | Kunstuniversität Linz in Wien (IFK).

Keine andere Art Literatur hat es vor dem Roman deshalb zu einer eigenen „Theorie“ gebracht, und diese Theorie ist nicht die einer literarischen Form, sondern des im Roman gelebten Lebens. Als der Literaturwissenschaftler und Philosoph Georg Lukács 1920 zum ersten Mal ein Buch mit dem Titel „Die Theorie des Romans“ herausbrachte, war das Ergebnis nicht weniger als eine mentale und soziale Diagnose des Lebens unter Bedingungen seiner Gegenwart. „Romanmenschen“, wie er sagte, leben in der Zeit der „transzendentalen Heimatlosigkeit“: Die Welt fügt sich nicht dazu, wie die Menschen im Roman sie sehen. Diese Diskrepanz ist der Roman, von ihr handelt er. Romanmenschen sind aber nicht nur Menschen in Romanen, sondern auch die, die sie lesen.

Institutionen, die das Leben prägen

Vor diesem Hintergrund versuche ich eine Gruppe von Romanen der klassischen Moderne neu zu verstehen und mit einem neuen Typ von „Theorie“ zu erschließen. Ich nenne sie die „Institutionenromane“. Das sind vor allem die beiden späteren Romane von Franz Kafka, “Der Process“ und “Das Schloss“. Das ist aber auch ein kleiner Roman von Robert Walser, den Kafka als einen der ganz wenigen Romane seiner Zeit liebte. Es sind Bücher, in denen wir nicht dem Lebensweg des Helden über Stationen hinweg folgen, sondern Geschichten, die sich auf eine einzige Station beschränken, wo aber Leben formatiert werden.

Veranstaltung

Am 10.10.2016 hält Rüdiger Campe den Vortrag „Der Institutionenroman geht ins Kino: Kafkas ‚Process‘ in Welles ‚The Trial‘“. Ort: IFK, Reichsratsstraße 17, 1010 Wien. Zeit: 18:15 Uhr - 20:00 Uhr

Solche Stationen oder Institutionen sind die Schule, das Gericht oder die Bürokratie. Am Anfang von Robert Walsers “Jakob von Gunten“ steht der Held vor der Tür einer Schule, die teilweise regelrechte Knabenschule, teilweise Schule für angehende Diener ist. Am Ende verlässt er sie, und er verlässt sie so, dass er ihre Existenz dabei zerstört. Auf der Mitte zwischen Eintritt und Austritt gelingt es Jakob, das Innere der Institution zu betreten, die „Inneren Gemächer“, wo Direktor und Lehrerin wohnen. Natürlich ist es der Moment der Enttäuschung. Denn im Innern ist die Institution leer.

Beispiel Kafka

In die Institution tritt man ein und aus ihr tritt man wieder aus oder geht darin unter. Das ist die binäre Logik ihres Romans. Kafka hat sie mit der ihm eigenen Unnachsichtigkeit erforscht: Josef K. im „Process“ erwacht und findet sich in der Welt des Gerichts; und am Ende kommt er in ihr um. K. im Schloss kommt spät in der Nacht an, wie der erste Satz sagt; und alles Weitere behandelt die Frage, ob dieses „Ankommen“ – das Überschreiten einer Brücke, das Betreten eines Territoriums – rechtens erfolgt ist oder nicht.

Bei den unzähligen Versuchen, sein faktisches Ankommen als regelrechte Ankunft in der Institution nachzuvollziehen, verliert dieser K. sich mehr und mehr in der Institution, im Territorium, im Innern des Systems. Ob Kafka ihn wie den Joseph K. im „Process“ darin umkommen lassen wollte, ist nicht ganz klar. Aber in den Wucherungen des Romanfragments verliert der Leser den Helden selbst auch aus den Augen vor all seinen Anstrengungen, zum Zentrum der Institution, dem Schloss, vorzustoßen.

Alte Bücher in einer Bibliothek

AP Photo/Lefteris Pitarakis

Literaturhinweise

Georg Lukács, Die Theorie des Romans. Ein geschichtsphilosophischer Versuch über die großen Formen der Epik. Bielefeld: Aisthesis Verlag 2009.

Franco Moretti, The Way oft he World. Bildungsroman in European Culture. London: Verso 2000.

Rüdiger Campe, Kafkas Institutionenroman. Der Proceß, Das Schloß. In: Rüdiger Campe, Michael Niehaus (Hg.): Gesetz. Ironie. Heidelberg: Synchron Verlag 2004. S. 197-208.

“Normaltage“ vom 19. Jahrhundert bis heute

Dieses Muster, diese Obsession und diese Analyse kann man wiederfinden zum Beispiel in den Schul- und Universitätsromanen von Robert Musil – “Die Verwirrungen des Zöglings Törless“ – und James Joyce – “Das Porträt des Künstlers als junger Mann“. Thomas Mann schreibt einen langen und eigenartigen Abgesang im “Zauberberg“. Hans Castorp, der Romanmensch dieses Buchs, kommt ins Sanatorium in Davos, um drei Wochen “auf Urlaub“ zu bleiben. Es werden sieben Jahre, und er verlässt die Anstalt nur, um in den Weltkrieg zu ziehen. Diese Institution schreibt sich dem, der in sie eintritt, in feingliedriger Arbeit an Körper und Seele ein. Thomas Mann findet dafür das Wort vom „Normaltag“.

So kann man weitergehen und weitere Entdeckungen machen. Man kann – um ganz willkürliche Titel zu nennen – zurückgehen ins 19. Jahrhundert und zum Beispiel “Das Geld“, Zolas Börsenroman, lesen. Man kann ins 20. und 21. Jahrhundert weitergehen und sich mit Thomas Bernhards autobiografischen Erzählungen “Der Keller““Der Atem““Die Kälte“ beschäftigen, man kann Pauls Austers surreales Buch “In the Country of Last Things“ zur Hand nehmen oder Rainald Goetz‘ kritischen Zeitroman “Johann Holtrop“.

Umkehrung der Bildungsromane

Immer hat man es mehr oder weniger deutlich mit der Umkehrung des alten Bildungsromans zu tun. Statt des Individuums und seiner Gestaltwerdung sieht man den Raum der Institution und den Parcours der Bewegungen, die er dem Individuum ermöglicht und abverlangt.

Das hatte es ja bei Goethe selbst schon gegeben in dem einen Kapitel, in dem Wilhelm das Archiv der Turmgesellschaft betritt und wie auf einem Altar die Biografien seiner selbst und vieler anderer versammelt findet und anstatt des Altarbildes wie in einer Videoinstallation die Agenten der Geheimgesellschaft auftreten sieht, die die Leben der andern lenken.

Institutionenromane beschränken sich auf den engen Raum dieses Archivs und Zentrums. Es ist, als habe sich der Roman – und die Weise, wie wir unser Leben wahrnehmen und verstehen – in ihnen einmal um die eigene Achse gedreht.

Rüdiger Campe, IFK/Yale University

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