„Wer hat denn das bestellt?“

Peter Higgs ist einer der prominentesten Physiker der Gegenwart. Doch er scheut die Öffentlichkeit. In einem Interview spricht der Brite über seine Flucht vor dem Nobelpreiskomitee - und über wissenschaftliche Fragen, auf die er bis heute keine Antwort weiß.

Ich würde unser Gespräch gerne mit dem 4. Juli 2012 beginnen …

Daran erinnere ich mich.

Jener Tag, an dem am Kernforschungszentrum CERN die Entdeckung des Higgs-Teilchens bekanntgegeben wurde. Sie saßen im Publikum als Rolf-Dieter Heuer, der damalige CERN-Generaldirektor, sagte: „Ich glaube, wir haben es.“ Was ging Ihnen in diesem Moment durch den Kopf?

Nun, es war eine überwältigende, berührende Erfahrung - wie man vermutlich aus meiner Reaktion auch ersehen konnte. Ich hatte sehr lange auf diesen Moment gewartet. Auch die Reaktion der anderen Physiker war erstaunlich: Nicht so wie bei einem wissenschaftlichen Seminar sonst üblich - eher so wie am Ende eines Fußballspiels, wenn das Heimteam gewonnen hat. Die Leute sprangen auf und schrien. Großartig.

Der Higgs-Mechanismus ist dafür verantwortlich, dass die Materie Masse erhält. Zwischen Ihrer Vorhersage und der experimentellen Bestätigung vergingen fast 50 Jahre. Warum hat es so lange gedauert?

Der Mechanismus, durch den Teilchen ihre Masse erhalten, ist nicht wirklich meine Erfindung. Ich habe nur Schwierigkeiten in diesem Konzept beseitigt. Und ich war nicht der einzige. 1964 entwickelten insgesamt sechs Physiker die mehr oder weniger gleiche Idee.

Zur Person

Peter Higgs ist einer der geistigen Väter des nach ihm benannten Higgs-Bosons, bisweilen auch „Gottesteilchen“ genannt. 2013 erhielt er für seine Beiträge zur Physik der Elementarteilchen den Nobelpreis.

Gestern kam er auf Einladung des Instituts für Hochenergiephysik der Akademie der Wissenschaften nach Wien.

Ö1-Sendungshinweis

Über Peter Higgs berichtet heute auch das Mittagsjournal, 19.10., 12.00 Uhr.

Dass es bis zum Nachweis so lange gedauert hat, war jedenfalls keine Überraschung: Zunächst war nicht klar, auf welche Kraft diese Theorie anzuwenden sei. Steven Weinberg erkannte als erster, dass man das in Bezug auf die elektroschwache Kraft tun kann. Außerdem war damals nicht sicher, ob die Theorie mathematisch tragfähig ist - diese Schwierigkeit hat Gerard ’t Hooft 1971 beseitigt, das war die zweite Stufe.

Erst Mitte der 70er Jahre begannen die Physiker über dieses unerwartete übriggebliebene Teilchen ohne Spin zu sprechen, das nach mir benannt wurde. Dann begannen sich die Experimentalphysiker Gedanken zu machen, wie man es nachweisen könnte. LEP, der erste Teilchenbeschleuniger des CERN, hatte nicht genug Energie.

Die letzte Stufe begann mit der Planung des Large Hadron Collider (LHC) in den 80er Jahren. Das brauchte seine Zeit, ebenso die Finanzierung und der Bau der Maschine. Eingeschaltet wurde der LHC erstmals im Jahr 2008. Es gibt gute Gründe dafür, dass wir so lange warten mussten.

Ist es nicht eigenartig, dass die Natur genau jenen Mechanismus realisiert hat, der Ihnen und Ihren Kollegen in den Sinn kam? Hätte es auch andere Lösungen für das Problem gegeben?

Der Weg dorthin war verschlungen und kompliziert - unsere Lösung war notwendig. Und aus meiner Sicht war es auch die einzig mögliche.

Als Ihnen im Oktober 2013 der Nobelpreis für Physik zuerkannt wurde, waren sie tagelang nicht auffindbar. Selbst das Nobelpreiskomitee konnte sie nicht erreichen. Peter Higgs, so wurde damals gewitzelt, ist genauso schwer zu entdecken wie das nach ihm benannte Teilchen. Was passierte in dieser Woche?

Das war durchaus beabsichtigt. Der Grund dafür war ein Fehlalarm im Jahr davor: Im September 2012 fand ich heraus, dass der Leiter unserer Öffentlichkeitsabteilung zwei Statements vorbereitet hatte. Eines von mir und eines vom Rektor der Universität. Darin standen unsere Reaktionen zur Verleihung des Nobelpreises. Ich hielt das für verfrüht, unter anderem deswegen, weil die CERN-Physiker noch nicht einmal den Spin des Teilchens bestimmt hatten und zum damaligen Zeitpunkt nur von einem „Higgs-artigen Teilchen“ sprachen.

Peter Higgs

ORF/Czepel

Peter Higgs im Interview

Ich wollte die Angelegenheit im Jahr darauf ein bisschen unter Kontrolle halten und kam mit den Leuten von der Öffentlichkeitsarbeit überein: Wenn ich den Nobelpreis am 8. Oktober bekomme, dann machen wir am folgenden Freitag in Edinburgh eine Pressekonferenz. Bis dahin werde ich anderswo sein. Und so war es auch.

Das Higgs-Teilchen ist der letzte Baustein im Standardmodell der Elementarteilchen. Alle von dieser Theorie vorhergesagten Teilchen wurden nun im Experiment nachgewiesen, doch die moderne Physik steht vor theoretischen Problemen, die das Standardmodell nicht beantworten kann. Hat sich die Physik in eine Sackgasse manövriert?

Wir befinden uns nun in einem Zustand der Unsicherheit. Es gibt eine Reihe von Wegen, um die Theorie weiterzuentwickeln. Aber wir wissen nicht, welcher der richtige ist. Die Supersymmetrie wäre eine Möglichkeit.

Das Standardmodell beschreibt das Verhalten der „normalen“ Materie. Doch die macht bloß fünf Prozent der Energie im Universum aus. Der Rest geht auf das Konto der Dunklen Energie und der Dunklen Materie. Fünf Prozent - ist das nicht wenig für die, wie es allenthalben heißt, „erfolgreichste Theorie der Physik“?

Oh ja, da stimme ich Ihnen zu! Ich denke, jedem Theoretiker ist bewusst, dass das ein großes Problem ist. Und selbst wenn das Standardmodell 90 Prozent der Energie im Universum beschreiben würde, hätten wir immer noch ein Problem.

Unerklärt sind bislang auch die Massen der Quarks und nicht zuletzt auch jene des Higgs-Teilchens. Man kann diese Eigenschaften zwar messen, aber man weiß nicht, warum diese Teilchen so schwer sind, wie sie es eben sind. Steht dahinter ein unbekanntes Ordnungsprinzip?

Ausstellung

Der Urknall und die Elementarteilchen sind auch Thema einer aktuellen Ausstellung im Naturhistorischen Museum:

Wie alles begann. Von Galaxien, Quarks und Kollisionen, 19.10.2016 bis 1.5.2017.

Zum gegenwärtigen Zeitpunkt können wir das nicht beantworten. Dass das Higgs-Teilchen so leicht ist, war wirklich eine große Überraschung, eine Kuriosität. Ein anderes Beispiel: Warum treten die sogenannten Leptonen immer in drei Gruppen oder Familien auf? Wir wissen es nicht - im Grunde geht es uns heute wie dem Theoretiker Isidor Rabi, der die Entdeckung des Myons einst mit den Worten kommentierte: „Wer hat denn das bestellt?“

Und wenn man sagen würde: Nun, so ist die Natur eben. Es ist Zufall. Wäre das für Sie eine denkbare Antwort?

Es ist schwer zu sagen, ob die Suche nach Antworten irgendwo enden muss. Vielleicht gibt es so einen Punkt.

Die Physik jenseits des Standardmodells wird auch immer wieder als „neue Physik“ bezeichnet. Was ist das Neue an der „neuen Physik“?

Das ist ein Schlagwort unter Teilchenphysikern, dessen Bedeutung sich im Laufe der Zeit immer wieder geändert hat.

Die Bedeutung ist unklar? Hat hier jeder seine private Theorie?

Durchaus. Theoretiker leiden nicht gerade an einem Mangel an neuen Ideen. Als am CERN letztes Jahr Hinweise auf ein neues Teilchens entdeckt wurden, erschienen in kurzer Zeit hunderte theoretische Arbeiten. Nun hat sich das Teilchen, wie es scheint, wieder in Luft aufgelöst. Im Editorial einer Fachzeitschrift stand daraufhin zu lesen: „Theoretiker sollten lernen, hin und wieder zu schweigen.“

Interview: Robert Czepel, science.ORF.at

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