„Uns interessieren auch die Lügen“

Früher Super-8-Filme, heute Handyvideos und Selfies - mit Bildern können wir unser Leben perfekt inszenieren. Soziologen blicken nun hinter diese Inszenierung und interessieren sich auch für die „Lügen und Mythen“ dahinter.

Die Österreichische Mediathek hat diese Woche im Rahmen einer Tagung verschiedene Sammlungen privater Filmaufnahmen vorgestellt. science.ORF.at sprach mit der Soziologin und Biografieforscherin Roswitha Breckner von der Universität Wien - über Selbstinszenierung, das „Familienalbum Facebook“ und den voreiligen Schluss, Selfies zeugten von einer neuen Ego-Kultur.

science.ORF.at: Frau Breckner, was ist für die Wissenschaft interessant an Amateurfilmen oder, wie bei Ihrem Forschungsschwerpunkt, privaten Fotoalben?

Roswitha Breckner: Da muss ich etwas länger ausholen: Ein typisches Phänomen unserer Zeit ist, dass wir aus den vorgegebenen gesellschaftlichen Strukturen wie etwa Familie und soziale Schicht wesentlich leichter ausbrechen können als noch vor hundert Jahren. Diese Freiheit geht aber einher mit einer unglaublichen Komplexität von biografischen Optionen. Wir müssen nun eigene Ideen, Konzepte und Pläne für unser Leben entwickeln und dafür auch die eigene Biografie in irgendeiner Weise in einen sinnhaften Zusammenhang bringen. Das geschieht viel durch Erzählen, aber immer mehr auch durch Bilder. Das Fotoalbum ist eine Bildbiografie.

Die Art und Weise, wie wir hier unsere Biografie präsentieren, unsere Familie und ausgewählte Ereignisse unseres Lebens fotografisch hervorheben, verrät sehr viel über unsere Orientierungen und auch unsere Zukunftspläne. In diese privaten Welten hineinzuschauen ist der Versuch zu verstehen, was genau dort passiert. Denn genau das wird auch als relevant für gesellschaftliche Entwicklungen angenommen.

Privataufnahme Mediathek Menschen am Stephansplatz

Österreichische Mediathek

Einen ähnlichen Versuch unternimmt auch die Oral History, die Zeitzeugen reden lässt: Was unterscheidet die Biografieforschung von der Oral History?

Breckner: Die Biografieforschung will - im Unterschied zur Oral History - dieses Material nicht unbedingt als objektivierbare Quelle nutzen. Wir wollen keine Fakten aus diesen Quellen herausdestillieren, um die Geschichte aus der Sicht der Unterprivilegierten umzuschreiben. Die Biografieforschung will keine „richtige“ Geschichte von unten schreiben. Uns interessieren gerade die Mythen, die Menschen sich über sich selbst zurechtlegen. Uns interessieren auch die Lügen und die ausgeblendeten Erinnerungen. Das, was nicht gesagt wird. Das, was nicht weitergegeben wird in generationellen Tradierungsprozessen. Das, was verschwiegen oder zurechtgebogen wird.

Sie haben eine Methode geschaffen, wie Sozialwissenschaftlerinnen mit Bildern analytisch arbeiten können. Wie kann man sich das vorstellen?

Breckner: Ich gehe davon aus, dass jedes Dokument mehr zeigt, als beabsichtigt wurde. Man kann darin mehr sehen als diejenigen, die es angelegt haben, sichtbar machen wollten. Das heißt jetzt nicht, dass ich eine sogenannte Schlüsselloch-Wissenschaft betreibe, was diesem Ansatz manchmal vorgeworfen wird.

Ein Beispiel ist ein Fotoalbum eines Mannes Jahrgang 1936. Er hat nach seiner Militärzeit angefangen, ein Album anzulegen, und wollte ein Familienalbum daraus machen. Er hat ganz klassisch mit der Großmutter angefangen, dann kamen die Eltern und so weiter, und dann auch seine Militärzeit. Diese Zeit in der Bundeswehr nimmt über ein Drittel des Albums ein und endet mit einer irritierenden Collage. Danach geht es weiter mit seiner Hochzeit, den Kindern, und so weiter.

... also auf den ersten Blick ein recht normales Familienalbum?

Privatfilme in Archiven

Die Österreichische Mediathek betreibt das Projekt „Wiener Video Rekorder“, das noch bis Ende November Videofilmmaterial sammelt und archiviert. Das Österreichische Filmmuseum sammelt und archiviert unter dem Titel „Wien bewegt!“ .

Breckner: Ich konnte rekonstruieren, dass dieses Album zwar gedacht war als Familienalbum - einem Ort, wo die Familiengeschichte den weiteren Generationen weitergegeben wird -, aber letztlich die eigene Kriegstraumatisierung in den Bildern verhandelt wird. Bei der biografischen Rekonstruktion, so heißt die Methode, fragen wir, wie gesellschaftliche Großereignisse, etwa Kriege, Spuren hinterlassen, die schwer artikulierbar sind. In Fotoalben kommen sie dann trotzdem zum Vorschein - meist sind diese Zeichen aber unbewusst gesetzt und würden in einem Interview gar nicht zur Sprache kommen. Mit dem Fokus auf die gesellschaftlichen Folgen dieser innerpsychischen Verfasstheit des Einzelnen.

In Ihrem aktuellen Forschungsprojekt gehen Sie weg von den traditionellen Fotoalben, hinein in die Social-Media-Welt. Wie unterscheidet sich die biografische Erzählung mit Bildern dort?

Breckner: Wir haben es heute mit sehr viel mehr Fotos zu tun, und viele dieser Fotos werden nicht mehr gemacht, um sie in ein Album zu kleben und für die Nachkommen aufzuheben, sondern um sie im Alltag schnell als Kommunikationselement in die Welt zu schicken und eine kurze Reaktion darauf zu bekommen. Was sich natürlich auch verändert hat, ist der Ort der Konstruktion dieser Fotozusammenstellungen von der Intimsphäre des Wohnzimmerschranks in die Öffentlichkeit Sozialer Medien.

Privataufnahme Mediathek Autodrom

Österreichische Mediathek

Für die Analyse der Selbstdarstellung ist wichtig, dass wir es hier nicht mehr mit einem Medium zu tun haben, sondern mit einer Verflechtung sehr verschiedener Medien. Es gibt verschiedenste Chatrooms, wo ich mich unterschiedlich darstelle. Auf einer App wie Instagram wird ein Bild schon rein technisch anders dargestellt als bei Facebook.

Haben Selfies das Familienalbum abgelöst?

Breckner: Ich beobachte, dass dieses Medium des traditionellen Fotoalbums immer wieder neu aufgegriffen wird. Die Funktionen, die das traditionelle Fotoalbum früher hatte - also Fotos so zusammenzustellen, dass man einen Familienzusammenhang sieht und man verstorbene Menschen mit in die Erinnerung nehmen kann -, tauchen in den Neuen Medien wieder auf. Viele Menschen leben heute weit entfernt von ihrer Familie. Sie stellen diesen Familienzusammenhang über Familienalben im Facebook-Profil her.

Ö1 Sendungshinweis

Dem Thema widmet sich auch ein Beitrag in Wissen aktuell: 19.10., 13:55 Uhr.

Wir beobachten beispielsweise, dass auf Facebook auch die Generation 50 bis 60 plus aktiv wird. Und ganz besonders wenn sie Enkelkinder haben, wird dieses Medium der Ort, wo sich Familien wieder treffen und digitale Familienalben anlegen.

Das Fotoalbum ist nicht verschwunden, ganz im Gegenteil. Diese Alben, die in den Sozialen Netzwerken angelegt werden, sind ein Indiz dafür, dass das Bedürfnis, Fotos langfristig in einen Zusammenhang zu stellen, nicht verschwunden ist. Ein momentaner Trend ist auch, sich das wieder in ein normales Album auszudrucken. Momentan boomen Angebote im Netz, mit denen man Alben selbst gestalten und sich in Papierform zuschicken lassen kann.

Macht uns die Bilderflut narzisstischer?

Breckner: Wenn man genau hinguckt, ist Facebook voll mit Gemeinschaftsfotos. Gerade in den adoleszenten Lebensphasen tauchen neben Selfies ganz viele Gruppenfotos auf. Insofern weiß ich nicht, ob man wirklich sagen kann, dass es da eine kulturelle Grundlagenverschiebung gibt hin zum Narzissmus. Zehn Jahre Social Media sind meiner Meinung nach nicht genug, um das empirisch zu beurteilen.

Das Gespräch führte Hanna Ronzheimer, Ö1 Wissenschaft

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