Entwicklungshilfe gegen Migration?

Entwicklungshilfe war lange eine Kürzungskandidatin bei Budgetverhandlungen. Nun ist sie wieder „in“ - und soll als Heilmittel gegen die Bewegung von Flüchtlingen dienen. Ob Entwicklungshilfe Migration aber wirklich stoppen kann, ist umstritten.

Was genau ist Entwicklungszusammenarbeit (EZA), wie Entwicklungshilfe heute genannt wird, eigentlich? Als kleinster gemeinsamer Nenner könnte man sagen: der Versuch, die Lebensbedingungen von Menschen in Entwicklungsländern zu verbessern.

Der Grundgedanke der EZA ist also normativ begründet. Nach dem Motto: „Wir, die Bewohner westlicher Länder und Gewinner der Industrialisierung und Globalisierung, sind moralisch zur Solidarität verpflichtet.“ Doch nicht erst seit der Diskussion über Migrationseindämmung spielen Eigeninteressen in der Entwicklungshilfe eine Rolle.

Hoffnung auf mehr Stabilität

Schon lange ist klar: Humanitäre Investitionen in Entwicklungsländer helfen nicht zuletzt den wohlhabenden Staaten selbst. Sie bringen idealerweise Stabilität in ein Land, welches in Folge weniger Unsicherheit d. h. etwa Terrorismus exportiert; gleichzeitig kann die Wirtschaft wachsen, was sich wiederum positiv auf die europäische Exportwirtschaft auswirkt.

Und gerade jetzt noch wichtiger: Aus stabilen Entwicklungsländern, die den Menschen Zukunftsperspektiven bieten, sind auch weniger Menschen zur Flucht gezwungen. EZA hatte und hat deshalb schon immer ein gewisses Eigeninteresse. Martin Ledolter, Geschäftsführer der Austrian Development Agency (ADA), sagt ganz klar: „EZA ist nicht selbstlos.“

Entwicklungshilfe kann Migration fördern

Wissenschaftlich gibt es allerdings keinen Beleg dafür, dass Entwicklungshilfe Migration eindämmt. Im Gegenteil. Es gibt Studien, die zeigen, dass durch Entwicklungshilfe kurz- bis mittelfristig sogar mehr Menschen auswandern. Warum? Migration ist selektiv. Wer auswandert, gehört nicht zu den „Ärmsten der Armen“, denn: Flucht braucht Geld - und zwar ziemlich viel. Das kann sich nur jemand leisten, der eben nicht in „extremer“ Armut (laut Weltbank-Definition von weniger als einem Dollar pro Tag) lebt. Ebendiese extreme Armut will EZA bekämpfen, wie auch in den Nachhaltigen Entwicklungszielen der UNO festgehalten wurde.

Schafft EZA also erst diese „migrationsfähige“ Schicht? Es sei „zynisch und menschenverachtend“, so gegen EZA zu argumentieren, meint Dirk Messner, Direktor des Deutschen Instituts für Entwicklungspolitik (DIE). Für ihn ist es ein „Trugschluss, Menschen dann lieber im Elend zu belassen, damit sie unsere europäische Wohlstandsidylle nicht stören“, denn: Wo Entwicklung kollabiert, Menschen keinen Weg aus der Armut finden, Staaten zerfallen, entsteht Gewalt und Krieg. Hier kommt freilich wieder das (sicherheitspolitische) Eigeninteresse ins Spiel.

Eröffnung einer Photovoltaik-Anlage am 22. Oktober 2016 in Bokhol/Senegal, das Projekt wurde in europäischer Entwicklungszusammenarbeit finanziert

APA/AFP/Seyllou

Eröffnung einer Photovoltaikanlage am 22. Oktober 2016 in Bokhol/Senegal, das Projekt wurde in europäischer Entwicklungszusammenarbeit finanziert

Programme sind zu kurz und haben „versteckte Agenda“

Warum Programme, die sich der Hypothese „Entwicklungshilfe stoppt Migration“ verschrieben haben, zum Scheitern verurteilt sind, begründet der niederländische Migrationsexperte Hein de Haas in einem Paper für die Universität Oxford wie folgt: Im Normalfall sind EZA-Projekte zu wenig umfassend und von zu kurzer Dauer, um dahingehend wirklich effektiv zu sein.

Der Wissenschaftler ortet in entwicklungspolitischer Migrationspolitik außerdem eine „versteckte Agenda“ der Rückführung von illegal Eingereisten oder abgelehnten Asylwerbern. Auch die Kohärenz zwischen Theorie und Praxis lasse zu wünschen übrig - Armutsbekämpfung ist das übergeordnete Ziel von Entwicklungspolitik, ein Großteil der Migranten kommt aber nicht aus den Ländern, die EZA unterstützt.

Geldtransfer: Mehr privat als durch den Staat

Eigentlich sind es gerade jene, die auswandern, die den Entwicklungsprozess in ihrem Heimatland vorantreiben. Emigration reduziert die Arbeitslosigkeit in den Herkunftsländern. Gleichzeitig tragen die erheblichen finanziellen Transfers, die Ausgewanderte jährlich in ihre Heimat zurückschicken, zur Verringerung von Armut bei und kurbeln die dortige Wirtschaft an. Diese Remittances betragen jährlich weit mehr als die Mittel für öffentliche Entwicklungshilfe (Official Development Assistance, ODA): 2006 beliefen sich die Rückflüsse auf 206 Milliarden US-Dollar, die ODA auf nur 100 Milliarden, wie ein OECD-Bericht zeigt. Friedbert Ottacher, Experte für Entwicklungspolitik, meint, dass die Remittances bereits viermal so hoch sind wie die globalen Mittel für EZA.

Diese migrationsbedingte Entwicklung übernimmt damit bereits jetzt bis zu einem gewissen Ausmaß die Aufgabe von EZA. Durch den dank Remittances größeren Wohlstand werden Anreize auszuwandern minimiert, sodass „Migration paradoxerweise eine Medizin gegen Migration“ wird, wie es Experte de Haas formuliert. Migration und Entwicklung sind also funktionell und wechselseitig verbundene Prozesse.

Allerdings, so hält auch die Organisation für wirtschaftliche Entwicklung und Zusammenarbeit (OECD) fest, müsse es gelingen, einen Großteil der Mittel in Bildung und Gesundheitsvorsorge zu lenken, anstatt - wie derzeit üblich - in Konsum, damit nachhaltige Effekte gesichert werden können.

Handelsabkommen untergraben Entwicklungshilfe

Auch wenn Migration selbst Entwicklung fördern kann: Die EZA behält ihre Daseinsberechtigung mit der Aufgabe, für entsprechende Rahmenbedingungen zu sorgen und die Einhaltung von Menschenrechten sicherzustellen. Anneliese Vilim, Geschäftsführerin von Globale Verantwortung, nennt hier „peace building“ und „good governance“ als zentrale Faktoren bei der Verbesserung der Rahmenbedingungen.

Gemeinsam mit Maßnahmen im Bereich Gesundheit, Bildung und Infrastruktur würde das direkt zur Abschwächung von Migrationszwängen beitragen. Leider wird diese Kernaufgabe der EZA aber immer wieder auch durch internationale Handelsabkommen oder ungleiche Handelshemmnisse, die die Länder des globalen Südens oft benachteiligen, untergraben.

EZA-Gelder nicht an Bedingungen knüpfen

Von der EZA kurzfristig „Wunder“ zu verkünden und zu erwarten, wie Politiker dieser Tage es gerne glauben machen, sei jedenfalls unsinnig, sind sich die Experten einig. EZA könne etwas dazu beitragen, das Migrationsproblem anzugehen, „aber nur mittel- oder sogar nur langfristig“, meint Walter Schicho, Professor für Afrikanistik an der Uni Wien.

Sowohl Ottacher als auch Schicho kritisieren die Verquickung von EZA und Migration bzw. die Instrumentalisierung von EZA, wie es derzeit sowohl in Österreich als auch in der EU passiert. „Migrationsabwehr“ diene in der eigenen Öffentlichkeit als „wirksame Begründung für Gelder, die in die EZA fließen“, sprich, als Rechtfertigung für die Aufwendung von Steuergeldern, meint Schicho.

„Wenn wir die globale Armut wirkungsvoll bekämpfen wollen, dürfen wir unsere Hilfe nicht an Bedingungen knüpfen. Genau das geschieht jedoch in der aktuellen Diskussion. (...) Heute wird der Eigennutz auf allen politischen Ebenen offen thematisiert: EZA-Gelder soll es nur noch gegen Rücknahmeabkommen, Grenzschutzmaßnahmen und Ähnliches geben. Die staatliche EZA wird an die kurze Leine genommen und an den sicherheitspolitischen Interessen der Geber ausgerichtet“, so Ottacher.

Christina Schwaha/APA

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