Sein und Nichts – mehr als Gegensätze

Das Sein und das Nichts: In der Philosophie werden diese beiden Grundgedanken meist gegenübergestellt. Sie sind aber mehr als nur Gegensätze, meint der Philosoph Dieter Henrich in einem kürzlich erschienenen Buch.

Beide Grundgedanken finden sich bei den Schriftstellern Friedrich Hölderlin und Samuel Beckett. Für Hölderlin ist das Sein der Urgrund, aus dem sich alles entfaltet hat. Für Beckett bestimmt das Nichts die menschliche Existenz. Dennoch stehen sich die beiden philosophisch gebildeten Schriftsteller nicht fern - so lautet die Grundthese von Dieter Henrich.

Um diese These zu begründen, begibt er sich in seinem 493 Seiten umfassenden Buch „Sein oder Nichts“ auf eine mäandernde, schwierig nachzuvollziehende Expedition ins Reich des Sein und des Nichts.

Hölderlins paradiesischer Naturzustand

Vorerst stellt Henrich - ein Spezialist für den Deutschen Idealismus - Beckett als Leser Hölderlins vor. Das ist überraschend, zählt doch Hölderlin zu den Dichtern, dessen anspielungsreiche Texte besonders schwierig zu lesen sind. Beckett, der „Deutsch im Selbststudium“ lernte, ließ sich keineswegs auf das Gesamtwerk Hölderlins ein; ihn faszinierten die sogenannten „späten Gedichte“, die der psychisch kranke Schriftsteller in Tübingen verfasst hatte.

Der Beginn der intellektuellen Laufbahn Hölderlin begann vielversprechend: Er besuchte mit Hegel und Schelling das Tübinger Stift, wo sie eine gemeinsame Philosophie entfalteten, die auf das Sein ausgerichtet war. Das Sein verstand Hölderlin als „Einigkeit mit allem, was lebt“. „Eins zu sein mit Allem, das ist das Leben der Gottheit, das ist der Himmel der Menschheit“, so heißt es zu Beginn von Hölderlin Roman „Hyperion“.

Er sprach vom „absoluten Sein“, vom Unendlicheinigen“, das sich der rationalen Annäherung entzieht. Das Sein verstand Hölderlin als paradiesischen Naturzustand, in dem Empfindungen, Phantasien und Gedanken noch miteinander vernetzt sind: „O ein Gott ist der Mensch, wenn er träumt, ein Bettler, wenn er nachdenkt!“

Porträtfoto des Philosophen Dieter Henrich

Fachschaft Philosophie - LMU

Biografie, Literatur, Links

Der am 5. Januar 1927 in Marburg geborene Dieter Henrich studierte Philosophie, Geschichte und Soziologie in Marburg, Frankfurt und Heidelberg, wo er bei Hans-Georg Gadamer promovierte. Nach der Habilitation lehrte er an verschiedenen Universitäten, darunter in Berlin und in Heidelberg. Von 1968 bis 1986 war Henrich ständiger Gastprofessor an der Harvard University und an der Columbia University. 1981 nahm er eine Berufung nach München an, wo er bis zu seiner Emeritierung 1994 Ordinarius für Philosophie war. Henrich ist Mitglied zahlreicher internationaler Universitäten und Inhaber renommierter Auszeichnungen.

Literaturhinweise

Dieter Henrich: Sein oder Nichts. Erkundungen um Samuel Beckett und Hölderlin, C.H. Beck Verlag (Leseprobe des Buchs)

Weitere Bücher von Dieter Henrich:

Der Gang des Andenkens. Beobachtungen zu Hölderlins Gedicht, Reclam Verlag
Der Grund im Bewußtsein. Untersuchungen zu Hölderlins Denken, Klett-Cotta Verlag
Konstellationen. Probleme und Debatten am Ursprung der idealistischen Philosophie (1789-1795), Klett-Cotta Verlag
Hegel im Kontext. Frankfurt: Suhrkamp Verlag
Selbstverhältnisse. Gedanken und Auslegungen zu den Grundlagen der klassischen deutschen Philosophie. Reclam Verlag
Fluchtlinien. Philosophische Essays. Suhrkamp Verlag

Links

Becketts Vorliebe für ein Schreckgespenst

Das Nichts beschäftigt die Philosophen seit Parmenides, wie Henrich in einem eigenen Kapitel ausführt. Das Nichts wurde vielfach als Mangel jeglichen Seins denunziert. „Was weder ist, noch möglich ist“ - so schrieb der deutsche Philosoph Christian Wolff - „nennt man nichts“. Während außereuropäische Denkströmungen - wie etwa der Zen-Buddhismus- das Nichts kultivierten, ist diese Thematik zum Schreckgespenst für die europäische Philosophie geworden.

Wie kaum ein anderer Schriftsteller hat Beckett das Nichts in seinen Romanen und Theaterstücken thematisiert. Das Nichts taucht in verschiedenen Ausprägungen auf; als Scheitern, Versagen, Verkrüppelung, zielloses Weitermachen. Die Protagonisten seiner Romane und Theaterstücke wie Wladimir, Estragon, Hamm, Clov, Molloy oder Malone vegetieren nur mehr als Restposten menschlichen Existierens. Becketts Rumpfexistenzen hausen in Tonnen oder vertreiben sich ihren Lebensekel mit sinnentleerten Dialogen und dem Warten auf eine unbestimmte Gestalt namens Godot, die freilich niemals kommt.

Der Roman „Molloy" schildert den körperlichen und geistigen Zerfall der Titelfigur. Er wohnt im Zimmer seiner Mutter; wie er da hingekommen ist, weiß er nicht. Im Endstadium seiner Existenz beobachtet er die nachlassenden Körperfunktionen und sein schwindendes Bewusstsein. Becket schreibt: „Alles verschwimmt. Noch ein wenig mehr und man ist blind. Es sitzt im Kopf. Er tut nicht mehr mit, er sagt: Ich tue nicht mehr mit. Taub wird man auch, und die Geräusche werden schwächer. Kaum dass man die Schwellen überschritten hat, ist es so“.

Nicholas Ofczarek als "Hamm" und Michael Maertens als "Clov" im Stück "Endspiel" von Samuel Beckett im Sommer 2016 im Salzburger Landestheater

APA - Barbara Gindl

Nicholas Ofczarek als „Hamm“ und Michael Maertens als „Clov“ im Stück „Endspiel“ von Samuel Beckett im Sommer 2016 im Salzburger Landestheater

Scheitern als Gemeinsamkeit

Was nun Beckett und Hölderlin verbindet - so Henrich - ist das Scheitern. Das klingt für Beckett einleuchtend; aber warum ist auch das Scheitern für Hölderlin signifikant, der ja vom absoluten, ozeanischen Sein ausging, von jener „friedlichen, seligen Einigkeit, wo Alles Eins ist“?

Diese Frage beantwortete Hölderlin selbst in seinem Roman „Hyperion“. Dort beklagt sich der gleichnamige Protagonist über den Verlust des „Urgrundes des Seins“, für den er die menschliche Reflexion verantwortlich macht.

Zitat: „Ich bin bei euch so recht vernünftig geworden, habe gründlich mich unterscheiden gelernt von dem, was mich umgibt, bin nun vereinzelt in der schönen Welt, bin so ausgeworfen aus dem Garten der Natur, wo ich wuchs und blühte und vertrockne an der Mittagssonne.“

Die Rationalität als Dressurakt

Die Reflexion teilt nach Hölderlin - in der Tradition von René Descartes - die Welt in Subjekt und Objekt, in eine res cogitans und in eine res extensa. Dadurch wird die ursprüngliche Einheit zwischen Mensch und Natur zerstört. Die Reflexion vertreibt den Menschen aus dem paradiesischen „Ur-Zustand“ und setzt ihn dem Dressurakt der Rationalisierung aus, der für die Unterdrückung der Triebe, der Emotionen, der Phantasie und der Träume fungiert.

Hat man, wie Hyperion, das absolute Sein erlebt, wird das menschliche Leben in eine Verfallsgeschichte transformiert. Im „Schicksalslied des Hyperion“ heißt es: „Es schwinden, es fallen / Die leidenden Menschen / Blindlings von einer / Stunde zur andern, / Wie Wasser von Klippe / Zu Klippe geworfen, / Jahr lang ins Ungewisse hinab.“

Ins „Ungewisse fallen“

Mit dem „Fallen ins Ungewisse“ sind Beckett und Hölderlin unterschiedlich umgegangen. In seinem Roman „Murphy“ beschrieb der irische Schriftsteller, wie sich der Protagonist des Romans aus der Alltagswelt ausklinkt, weil sie ihn von seiner Lieblingsbeschäftigung - der Meditation - abhält.

Zeitgenössische Darstellung des Schriftstellers und Dichters Johann Christian Friedrich Hölderlin (undatiert)

dpa/A0009 dpa

Zeitgenössische Darstellung von Hölderlin (undatiert)

Um dieser Nicht-Tätigkeit intensiv nachzugehen, fesselt sich Murphy mit verschiedenen Schals an seinen Schaukelstuhl und verharrt darin, bis er einen Nirwana-artigen Zu-Stand erreicht: Diese ekstatische Selbst- und Weltverlorenheit, in die er möglichst oft eintaucht, nennt Murphy „die kleine Welt“. Sie ist sein Refugium - der Ort, wo sich Murphy ungehindert in sein Unbewusstes vertiefen kann, ohne auf die Außenwelt reagieren zu müssen.

Einen anderen Weg des „Fallens ins Ungewisse“ beschritt Hölderlin. Er erlitt 1806 einen völligen psychischen Zusammenbruch und verbrachte 37 Jahre im Haushalt einer verständnisvollen Tischlerfamilie in Tübingen. Dort verbrachte er die Tage - ähnlich wie Becketts Theaterfiguren - mit unaufhörlichem Gehen, Gestikulieren, Schreianfällen und Wutausbrüchen.

Manchmal schrieb er noch kurze Gedichte, die Beckett so schätzte und die er mit Scardanelli signierte. Ein Beispiel: „Das Angenehme dieser Welt hab ich genossen / Die Jugendstunden sind, wie lang! wie lang! verflossen, / April und Mai und Julius sind ferne / Ich bin nichts mehr; ich lebe nicht mehr gerne!“.

Nikolaus Halmer, Ö1 Wissenschaft

Mehr zu dem Thema: