Nicht nur Menschen prägen Geschichte

Geschichte ist meist die Geschichte von Menschen - nicht von Pflanzen, Tieren oder Mikroorganismen. Dabei würden sie für den Menschen die „Drecksarbeit“ erledigen und den Planeten bewohnbar machen, sagt die Sozialanthropologin Anna L. Tsing.

Die US-Forscherin war vor Kurzem zu Gast in Wien an der Österreichischen Akademie der Wissenschaften. Im Interview mit science.ORF.at spricht sie über die Wechselbeziehung von menschlichen und nicht menschlichen Lebewesen und unter welchen Umstände alle überleben könnten.

science.ORF.at: Sie plädieren dafür Pflanzen, Tiere und Mikroorganismen in der Geschichtsschreibung auf andere Weise zu berücksichtigen. Warum?

Anna L. Tsing: Wir sind mit einer großen Krise konfrontiert, einer Klimakrise, einer Umweltkrise, einer Ressourcenkrise. Heute stellt sich die Frage, wer zukünftig überleben wird. Denn die industrialisierte Gesellschaft hat dafür gesorgt, dass unser Planet nicht mehr für alle in der gleichen Weise bewohnbar ist. Und ein Ergebnis dieser Krise ist, dass Natur- und Geisteswissenschaftler heute verstärkt zusammenarbeiten.

Zur Person

Anna L. Tsing ist Sozialanthropologin an der University of California in Santa Cruz. Ihr Buch „The Mushroom at the End of the World: On the Possibility of Life in Capitalist Ruins“ wurde 2016 mit dem Victor Turner Prize in Ethnographic Writing ausgezeichnet.

Vor Kurzem war sie auf Einladung der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, des Instituts für Kultur- und Sozialanthropologie und des IFK zu Gast in Wien.

Ein solches interdisziplinäres Forschungsfeld ist das Anthropozän, das Zeitalter, in dem der Mensch zum wichtigsten Einflussfaktor für den Planeten geworden ist. Können Sie mit diesem Begriff etwas anfangen?

Ja, durchaus. Das liegt unter anderem am Ursprung des Begriffs, den ich sehr interessant finde. „Anthropozän“ geht auf Geologen zurück, obwohl es sich dabei um einen multudisziplinären, auch sozialanthropologischen Zugang handelt. Meine einzige Kritik bezieht sich darauf, dass der Begriff sehr vereinheitlichend ist.

Was schlagen Sie also vor?

Ich verwende den Begriff „patchy anthropocene“. Das bedeutet so viel wie „durchwachsenes Anthropozän“. Also ein Konzept, das aus Flicken besteht. So ist es leichter, die Geschichte oder vielmehr Geschichten unseres Planeten zu erfassen. Und dazu gehören menschliche wie nichtmenschliche Einflussfaktoren, die die Erde so ungleichmäßig geformt haben.

Welche nichtmenschlichen Faktoren meinen Sie?

Renitente Organismen, die menschliche Interventionen begleitet. Die Art Pflanzen, Tiere oder Pilze, die Technologien des Anthropozäns begleiten, wie die Technologien der Industrialisierung, der Eroberung und Kolonialisierung. Man könnte sie als „camp follower“ bezeichnen. Wie Zivilisten, die früher Feldzüge begleitet haben, die gekocht oder gewaschen haben, gibt es Organismen, die der Mensch als Begleiterscheinungen auf dem Planeten verbreitet.

Ein Beispiel, das Sie in diesem Zusammenhang behandeln, ist die Entdeckung und Eroberung Amerikas.

Das ist sicher eines der prominentesten Beispiele. Die europäischen Soldaten hatten selbst nicht viel zu tun, denn all die Krankheitserreger, die sie eingeschleppt haben, haben den Kontinent für sie erobert. Diese unbeabsichtigten Allianzen zwischen Menschen und Nicht-Menschen gibt es heute immer noch. Wir befähigen all die Schädlinge, Erreger und Pathogene dazu, die Welt weniger bewohnbar für alle möglichen Spezies zu machen. Wir geben die Drecksarbeit des Anthropozäns weiter.

Orte, wo genau das passiert, sind Plantagen oder Felder mit Monokulturen. Was machen diese Orte und die zugehörigen Technologien mit unserem Planeten?

Das sind ökologische Vereinfachungen, wenn man so will. Man bereinigt den Ort von all dem, was da eigentlich wachsen bzw. leben würde. Diese vereinfachten Lebensumstände begünstigen Erreger aller Arten. Alte, die nun keine Feinde mehr haben, neue, die sich ungehindert ausbreiten können. Gleiches gilt für Tiere in der Massentierhaltung. Jede Vereinfachung des Ökosystems, die den Ertrag steigern soll, begünstigt etwas anderes, langfristig Schadhaftes.

Solche Erreger werden heute - globalisierungsbedingt - mit rasender Geschwindigkeit auf dem ganzen Planeten verbreitet. Eine Folge des freien Handels?

Es gibt einige Bereiche, in denen der freie Handel seltsame Blüten treibt, etwa beim weltweiten Geschäft mit Böden, Erde und Sand. Auf diese Weise werden Schädlinge auf der ganzen Welt verbreitet, die fast überall anders keine natürlichen Feinde haben und großen Schaden anrichten. Wo ich lebe, in Kalifornien, gibt es seit einigen Jahren einen Erreger, der „sudden oak death“ genannt wird, „plötzlicher Eichentod“. Die Rinde der Laubbäume wird rissig und die Pflanzen sterben. Diese Seuche wurde eingeschleppt, womöglich über fremde Erden. Mit diesem Rohstoff zu handeln, ist aber wirklich nicht notwendig. Und darauf zu verzichten ist keine große Einschränkung, ganz im Gegenteil.

Der Planet steckt in der Krise. Ist der Punkt, an dem es kein Zurück mehr gibt, bereits überschritten?

Ich finde, es ergibt keinen Sinn aufzugeben. Wir müssen uns jetzt überlegen, wie wir mit dem Chaos, das wir verursacht haben, zurecht kommen. Und das bedeutet, Lösungen für all die menschengemachten Probleme zu finden und nichtmenschliche Risikofaktoren einzudämmen.

Viele Menschen sind vom Umfang der planetaren Krise erschlagen. Muss das alles den Einzelnen nicht zwangsläufig überfordern?

Deswegen sollten wir uns alle mit der lokalen Geschichte befassen. Genau das steckt hinter dem „patchy anthropocene“: Man muss kein Experte sein, was globale Klimafragen betrifft, sondern sollte sich mit lokaler Geschichte beschäftigen, mit den Produktionsketten jener Güter, die wir täglich benutzen. Wir können schon viel erreichen, wenn wir uns mit den Materialien auseinandersetzen, mit denen wir die meisten Berührungspunkte haben.

Marlene Nowotny, Ö1 Wissenschaft

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