Isotype: Als die Bilder sprechen lernten

Gegen Ende des Zweiten Weltkrieges erlebte Großbritannien eine Phase des gesellschaftlichen Aufbruchs. Daran beteiligt war ein Flüchtling aus Wien: der Ökonom und Sozialreformer Otto Neurath, Schöpfer einer neuartigen Bildsprache.

Historiker Günther Sandner

Jan Dreer für IFK

Über den Autor

Günther Sandner lehrt an den Instituten für Wirtschafts- und Sozialgeschichte und für Politikwissenschaft der Universität Wien.

Er ist derzeit Senior Fellow am Internationalen Forschungszentrum Kulturwissenschaften (IFK). 2014 erschien sein Buch „Otto Neurath. Eine politische Biographie“ im Zsolnay Verlag.

Am 7. April 1941 erhielt der in Oxford lebende Otto Neurath eine Anfrage des britischen Filmemachers Paul Rotha. Rotha kannte die Bildsprache Isotype (International System of Typographic Picture Education), die Neurath gemeinsam mit Gerd Arntz und anderen im Roten Wien der Zwischenkriegszeit entwickelt hatte.

Konnten die Piktogramme, die „sprechenden Bilder“ von Isotype, nun nicht auch in Rothas Dokumentarfilmen eingesetzt werden?

Isotype war ursprünglich als „Wiener Methode der Bildstatistik“ konzipiert worden, um der Arbeiterschaft das Erkennen ökonomischer und sozialer Zusammenhänge zu ermöglichen. Spätestens im niederländischen Exil ab 1934 wurde Neuraths Bildsprache internationalisiert.

Mit dem im US-amerikanischen Verlag Alfred A. Knopf erschienenen Werk Modern Man in the Making publizierte Neurath im Jahr 1939 eine Geschichte der menschlichen Zivilisation im kombinierten picture-text-style. Dieses Buch, das im englischsprachigen Raum auf große Aufmerksamkeit stieß, hatte auch Rotha mit großer Begeisterung gelesen.

Flucht und Internierung

Für Neurath kam diese Anfrage genau zur rechten Zeit. Er war erst wenige Wochen zuvor mit seiner engsten Mitarbeiterin und nunmehrigen Frau Marie Neurath (geb. Reidemeister) aus der Internierung auf der Isle of Man entlassen worden. Rund acht Monate hatten die beiden dort in getrennten Lagern als „feindliche Ausländer“ nach ihrer Flucht vor den Nazis aus Den Haag verbracht – eine Vorsichtsmaßnahme der Briten gegen befürchtete Spionage, die auch viele Antifaschisten erfasste.

Otto Neurath vor einem Isotype-Plakat

Courtesy of the Otto and Marie Neurath Isotype Collection, University of Reading

Bilder einer Ausstellung: Otto Neurath vor einem Isotype-Plakat; London 1944

Schon bald gründete Neurath mit der Hilfe von Intellektuellen wie der Philosophin Susan Stebbing oder dem Sozialwissenschaftler G.D.H. Cole in Oxford das Isotype Institute. Geplant waren Ausstellungen, Publikationen und Vorträge. Nun agierte das Institut als Kooperationspartner bei der gemeinsamen Filmarbeit mit Rotha.

Soziale Aufbruchsstimmung

Die politische Stimmung in Großbritannien schwenkte während des Kriegs nach links. Die Ansicht, dass der Krieg als Geburtshelfer für Sozialreformen agierte, war weit verbreitet, schreibt etwa der britische Historiker Paul Addison. Auch der Gedanke wirtschaftlicher und sozialer Planung zum Aufbau einer sozial gerechten Nachkriegsökonomie war ungeheuer populär, nicht nur auf der Seite der (radikalen) Linken.

Buchcover: World of Plenty

Otto and Marie Neurath Isotype Collection, University of Reading

In dieser Situation beauftragte das Ministry of Information (MoI) eine Reihe von britischen Filmemachern, sich in ihrer Arbeit mit kriegsrelevanten Themen zu beschäftigen.

Der bekannteste Name unter den Vertretern der Dokumentarfilmbewegung war sicherlich John Grierson. Doch auch Paul Rotha hatte sich mit einschlägigen Büchern und Filmen bereits etabliert.

Rotha produzierte mit dem Isotype Institute zunächst eine Reihe von kürzeren Filmen. In ihnen wurden – unter Mitwirkung von Otto und Marie Neurath – Trickfilmsequenzen mit Isotype-Piktogrammen eingespielt, um den Zusehern möglichst eindringlich vor Augen zu führen, warum sie im Krieg Altstoffe aufbewahren oder Blut spenden sollten. In Kinos, aber auch in Fabriken oder bei Großveranstaltungen fanden diese Filme viele Zuseher/innen.

Hunger und Wohnungsnot

Neben einer ganzen Reihe solcher Kurzfilme ragten vor allem zwei mittellange Filme heraus. World of Plenty (1943) verdeutlichte, dass der Hunger in der Welt kein natürliches Schicksal war, sondern durch geplante Produktion und Verteilung, durch einer Welternährungsplan, besiegt werden könnte (siehe Video). Der schottische Ernährungswissenschaftler und spätere Friedensnobelpreisträger John Boyd Orr trat im Film selbst auf und lieferte wichtige Argumente.

Land of Promise (1945) zeigte wiederum, wie im Nachkriegsgroßbritannien ein engagiertes Wohnbauprogramm initiiert werden könnte, mit dem Wohnungsnot und Wohnungselend sowie ihre negativen Begleiterscheinungen (z.B. erhöhte Kindersterblichkeit) beseitigt werden könnten.

Veranstaltung

Am 7.11.2016 hält Sandner den Vortrag „Planning for Freedom. Isotype und der britische Dokumentarfilm im Zweiten Weltkrieg“. Ort: IFK, Reichsratsstraße 17, 1010 Wien. Zeit: 18:15 Uhr - 20:00 Uhr

Beide Filme waren in ihren Stilmitteln äußerst innovativ. Neben den Isotype-Sequenzen, die „visuelle Argumente“ in Form sozialer und ökonomischer Zusammenhänge veranschaulichten, traten etwa durch Schauspieler dargestellte Charaktere auf, von denen manche in einer dialektischen Erzählweise den Argumenten des Films widersprachen („I don’t believe in all those Isotypes!“), Experten traten auf und Dokumentarfilmmaterial wurde eingespielt, ja in Land of Promise gab es sogar eine eigene Stimme für Isotype.

Verebbte Reform

Rotha und Neurath dachten bei ihrer Arbeit an eine Art Demokratieerziehung durch Filme und wollten die Bevölkerung für den Aufbau einer sozialistischen Nachkriegsgesellschaft gewinnen. Für den politischen Emigranten Otto Neurath waren diese Filme aber auch ein (persönlicher) Beitrag im Kampf gegen den Nationalsozialismus.

Isotype-Plakat von Otto Neurath

Otto and Marie Neurath Isotype Collection, University of Reading

Plakat zu „Land of Promise“

Wie schon nach dem Ersten Weltkrieg sah Neurath gerade in der Zeit nach dem Krieg eine große Chance. Es ist zum Teil verblüffend zu sehen, wie sehr seine Argumente in den Sozialisierungsdebatten nach dem Ersten Weltkrieg den nun in Großbritannien entwickelten Filmargumenten glichen. Wieder war es das Ziel, auf der Basis wissenschaftlich gesicherter Daten eine demokratisch organisierte Wirtschaftsplanung zu ermöglichen, die den Menschen Nahrung, Wohnung, Bildung und Gesundheit sicherte, die aber auch ein sozial und kulturell reichhaltiges Leben ermöglichte.

Dass die soziale und politische Aufbruchsstimmung in Großbritannien schon bald wieder verebbte, erlebte Neurath nicht mehr. Er starb am 22. Dezember 1945. Paul Rotha setzte sein Filmschaffen mit wechselnden Erfolgen noch einige Jahrzehnte lang fort.

Günther Sandner, IFK

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