Diskussion: Islam und Antisemitismus

Das Thema „Islam und Antisemitismus“ birgt heute nicht nur im übertragenen Sinn Sprengkraft. Wie judenfeindlich sind etwa die Flüchtlinge aus dem arabischen Raum? Darüber haben Experten in Wien diskutiert.

Anlass war eine Konferenz am Institut für Judaistik an der Universität Wien, das sich dem Thema aus historischer und aktueller Perspektive gewidmet hat. Das Institut bemüht sich seit einigen Jahren, einen Forschungsschwerpunkt zum Thema Antisemitismus zu etablieren.

Man setze sich mit verschiedenen Formen von Antisemitismus auseinander, sagt Armin Lange, Institutsvorstand und einer der Organisatoren der Konferenz. „In den vergangenen beiden Jahren war es das Verhältnis von Christentum und Antisemitismus, diesmal beschäftigen wir uns mit dem Islam.“

Nichts Islamspezifisches

Man wolle unter anderem mit dieser Konferenz erforschen, woher der zunehmende Antisemitismus von muslimischer Seite rühre, erklärt Klaus Davidowicz, ebenfalls vom Institut für Judaistik. Es sei wichtig, die historische und religiöse Breite des Phänomens zu analysieren, denn dieser Antisemitismus hänge nicht nur mit der Gründung des Staates Israel und dem seit damals bestehenden Nahostkonflikt zusammen, so Davidowicz.

Hälfte der Jugend antisemitisch

47 Prozent aller jungen Muslime in Wiener Jugendzentren lehnen Juden ab: Das geht aus einer vor wenigen Wochen präsentierten Wiener Untersuchung hervor (PDF der Studie).

„Die Elemente des islamischen Antisemitismus sind uralt, es gibt sie schon in der Antike und im Mittelalter. Es sind immer wieder dieselben: die Idee einer jüdischen Weltverschwörung, die Idee des Gottesmords, der Vorwurf des Ritualmords. Diese Elemente von Antisemitismus, sind nicht spezifisch für den Islam, sondern sie werden adaptiert.“

Import aus Europa

Der arabische Antisemitismus sei maßgeblich durch den Import des europäischen Antisemitismus beeinflusst worden, sagt Esther Webman von der Universität Tel Aviv, Expertin für arabischen bzw. muslimischen Antisemitismus. "Er ist eine Symbiose aus islamischen, anti-jüdischen Konzepten und europäischen, ökonomischen, christlichen antisemitischen Motiven. Hauptsächlich regiert die Wahrnehmung von Israel und den Juden als mächtige Einheit, die die Welt, die westlichen Medien, die Wirtschaft und die Globalisierung kontrolliert.“ Diese Wahrnehmung ist Mitte des 19. Jahrhunderts entstanden, so Webman, vor allem durch die europäische Kolonialisierung und den Ideen, die sie mit sich brachte.

Heute seien muslimischer Antisemitismus und Antizionismus meist nicht mehr voneinander zu trennen, so Webman. In den arabisch geprägten Ländern sei der Antisemitismus weltweit am stärksten ausgeprägt, meint der Hamburger Politikwissenschaftler und Publizist Matthias Küntzel. „Er richtet sich speziell gegen die Juden in Israel, aber auch anderswo: Wir sehen ja etwa die gezielten Anschläge des IS auf jüdische Einrichtungen in Europa.“

Sündenbock für autoritäre Regime

Thomas Schmidinger, Experte für das Thema, aber nicht Teilnehmer der Konferenz, meint, dass es schwer sei, Antisemitismus wissenschaftlich zu quantifizieren. Was man zumindest sagen könne, sei, dass offener Antisemitismus in diesen Gesellschaften nicht tabuisiert sei, so Schmidinger.

Und: „Für viele Regierungen der arabischen Welt hat der Antisemitismus die klassische Funktion eines Sündenbocks gehabt: Wenn die eigene Bevölkerung mit irgendetwas unzufrieden war, hat man auf Israel verwiesen oder auf das Weltjudentum, wenn man es noch platter wollte.“ Die Schulbücher seien voll von klassischem Antisemitismus, so Schmidinger, und das beeinflusse die Haltungen der Bevölkerung.

Ö1 Sendungshinweise

Dem Thema widmen sich auch Beiträge in Praxis - Religion und Gesellschaft (9.11., 16 Uhr) und in Religion aktuell (9.11., 18:55 Uhr)

„Das hat aber auch damit zu tun, dass wir in fast allen arabischen Staaten über Jahrzehnte hinweg autoritäre Regime in unterschiedlicher Ausprägung haben. Und die haben es nicht zugelassen intellektuelle Freiräume zu schaffen, in denen solche Fragen debattiert werden können.“

Syrien: Antisemitismus als Mainstream

Nicht nur im Nahen Osten, auch in jüdischen Gemeinden in Europa ist immer mehr Sorge zu vernehmen. Der österreichische Antisemitismusbericht 2015 zeigt eine Zunahme von antisemitischen Vorfällen mit islamistischem Hintergrund. Die aktuelle Flüchtlingssituation wird nicht nur in der jüdischen Gemeinde in Österreich aufmerksam beobachtet.

Zahlen und Daten dazu, wie verbreitet antisemitische Tendenzen unter Flüchtlingen sind, gebe es noch nicht, sagt der Politikwissenschaftler Stephan Grigat vom Moses Mendelssohn Zentrum für europäisch-jüdische Studien an der Universität Potsdam. Man könne - noch - keine seriösen Angaben machen.

„Was man aber heute schon sagen kann und muss: Eine große Zahl der Flüchtlinge kommen aus Gesellschaften, in denen klassische antisemitische oder modernisierte, antizionistische Positionen – Hass auf Israel – gang und gäbe sind. Sie gehören dort oft zum Mainstreamdenken.“

Ein Beispiel sei Assads Syrien: „Das ist eines der übelsten antisemitischen Regime“, sagt Grigat. „Hochrangige Minister haben krass antisemitische, verschwörungstheoretische Bücher geschrieben. Man würde sich blind und taub stellen, wenn man davon ausgeht, dass die Flüchtlinge aus Syrien davon unbeeindruckt wären.“ Ähnliches gelte für Flüchtlinge aus anderen Regionen.

Am wichtigsten: Flüchtlinge integrieren

Esther Webman von der Universität Tel Aviv ist skeptisch: „Es ist klar, dass Flüchtlinge aus diesen Ländern bestimmte Auffassungen haben. Aber: Ich bin nicht sicher, ob sie sich tatsächlich antisemitisch verhalten werden. Der IS kann versuchen, ihre Lage auszunutzen. Aber zuerst einmal sehe ich sie als Menschen, die einfach versuchen zu überleben, und nicht als Bedrohung.“ Bedrohlich werde es, wenn die Flüchtlinge nicht integriert werden, so Webman. „Dann könnten sie von radikalen Strömungen instrumentalisiert werden.“

Armin Lange, Vorstand des Instituts für Judaistik an der Uni Wien, kennt die Sorgen vieler Jüdinnen und Juden wegen antisemitischer Tendenzen unter Flüchtlingen in Österreich. Lange gibt aber zu bedenken: „Man muss deutlich sagen, dass es in Österreich und anderen Teilen von Europa – Österreich ist da leider repräsentativ – Antisemitismus lange vor der muslimischen Einwanderung gegeben hat. Und es wird ihn, befürchte ich, auch neben und nach einer muslimischen Einwanderung geben.“ Es gelte zu vermeiden, dass sich verschiedene Antisemitismen künftig potenzieren.

Persilschein für rechte Gruppierungen

Kritische Beobachterinnen und Beobachter wie der Politikwissenschaftler Thomas Schmidinger meinen, dass man in diesem Zusammenhang auch ein anderes Problem ansprechen müsse - das direkt mit der aktuellen politischen Stimmung in Österreich verknüpft sei. Vermeintlicher oder manifester Antisemitismus unter Musliminnen und Muslimen werde nämlich auch instrumentalisiert, so Schmidinger.

Der sogenannte muslimische Antisemitismus werde von rechten politischen Gruppen gerne vorgeschoben, um gegen Musliminnen und Muslime zu hetzen. Sie versuchen damit, „einen Persilschein“ zu erhalten. “Um den in der größeren Öffentlichkeit tatsächlich verpönten Antisemitismus verstecken zu können, ist der muslimische Antisemitismus natürlich sehr willkommen. Sie sagen: ‚Die anderen, gegen die wir jetzt vorgehen, sind die Antisemiten. Damit können wir beweisen: Wir sind es nicht‘“, so Schmidinger.

Der Konferenz an der Universität Wien wird übrigens kommende Woche eine Diskussion zum Thema Islam und Antisemitismus in der Israelitischen Kultusgemeinde - mit namhaften muslimischen Experten - folgen.

Kerstin Tretina, Ö1 Religion; Mitarbeit: Lukas Wieselberg, science.ORF.at

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