Freuds Wurzeln im Unglückshaus

Sigmund Freud und die Berggasse 19 gehören untrennbar zusammen. Doch die Wurzeln der Psychoanalyse wurden an einer anderen Adresse gelegt, am Schottenring 7 – einer Adresse von Unglück, Suizid und vielen Toten.

Vor 135 Jahren, am 8. Dezember 1881, brannte dort das Ringtheater ab. Knapp 400 Menschen fanden den Tod: Ursachen dafür waren die Profitgier der Bauherren, verschachtelte Fluchtwege, mangelnder Brandschutz und die Autoritätshörigkeit der Kaiserzeit, die schnellere Rettungsmaßnahmen verhinderte.

Was an dem Abend alles schiefgelaufen ist, zeigt der Film „Sühnhaus“, der am Mittwoch in den Kinos Premiere hatte. Die Regisseurin Maya McKechneay charakterisiert die Adresse Schottenring 7 als eine, die schon seit Jahrhunderten das Unglück angezogen hat: Lange über das Mittelalter hinaus befanden sich in der Nähe Hinrichtungsstätten, das Ringtheater brannte ab und seinem Nachfolger sollte auch nichts Gutes widerfahren.

Heinrich Krenn, der Leiter des Feuerwehrarchivs, vor einem Gemälde, das den Brand des Ringtheaters zeigt

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Heinrich Krenn, der Leiter des Feuerwehrarchivs, vor einem Gemälde, das den Ringtheaterbrand zeigt

Keine Furcht vor dem „Geisterhaus“

Kaiser Franz Joseph I. ließ an der Stelle ein Miethaus erbauen, dessen Einnahmen wohltätigen Zwecken zuflossen – der Volksmund fand schnell das passende Wort dafür: „Sühnhaus“. Lange Zeit wollte in das Haus mit der repräsentativen Lage allerdings niemand einziehen, bis Sigmund Freud kam. Der noch junge und unbekannte Nervenarzt war der erste bürgerliche Mieter des Hauses, das vielen unheimlich war, weil es „auf Knochen gebaut war“.

„Freud hat sich vor dem schlechten Ruf des Hauses nicht geschreckt“, sagt der Freudexperte und Psychoanalytiker Thomas Aichhorn gegenüber science.ORF.at. „Er hat definitiv nicht an Geister oder Gerüchte geglaubt, das hätte seiner rationalen Weltauffassung widersprochen.“ Freud hat es auch nichts ausgemacht, dass er selbst fast ein Opfer des Ringtheaterbrands geworden wäre. Letzteres behauptet zumindest seine Schwester Anna Freud-Bernays, die in ihren Memoiren erzählt, dass sie mit ihrem Bruder Karten für den Unglücksabend besaß, die sie verfallen lassen mussten.

Veranstaltung

Am Sonntagabend, 12.12., findet eine Sondervorführung des Films „Sühnhaus“ im Wiener Kino DeFrance statt, anschließend eine Podiumsdiskussion im Freud Museum zum Thema: “Freud vor der Berggasse“.

„Als wir spätabends von unserer Gesellschaft nach Hause gingen, sahen wir zu unserem Erstaunen, dass es hinter der Augartenbrücke glühendrot war, und bekamen auf unsere Frage die Antwort, dass das Ringtheater in Flammen stehe. Wir jubelten ein Dankgebet, dass wir durch einen Zufall vor dem schrecklichen Geschickt bewahrt geblieben waren. Wir gingen zum Brandplatz, standen dort bis tief in die Nacht hinein und waren Zeugen der schrecklichsten Szenen“, schreibt Anna Freud-Bernays.

Zeugte erstes „Sühnhaus-Baby“ und die Psychoanalyse

Fünf Jahre später, im Herbst 1886, ziehen Sigmund und Martha Freud kurz nach ihrer Hochzeit in das „schönste Haus von Wien“, wie es Freud einmal bezeichnet hat – der Eingang ins Sühnhaus war für sie auf der bürgerlichen Seite des Gebäudes, auf der Maria-Theresien-Straße. Nur ein Jahr später wird ihr erstes Kind geboren, Mathilde. Weil sie das erste „Sühnhaus-Baby“ ist, soll der Kaiser gratuliert und eine prächtige Vase aus der Kaiserlichen Porzellanmanufaktur geschickt haben.

Die Ordination, die sich ebenfalls in der Wohnung befand, ging mehr schlecht als recht. Freud machte Schulden, um sich die Miete und seine bald drei Kinder leisten zu können. Historisch am wichtigsten ist aber: „Im Sühnhaus wurde das Fundament der Psychoanalyse gelegt“, so Thomas Aichhorn. Freud experimentierte damals in erster Linie mit Hypnose – eine Methode, die er zuvor bei dem Neurologen Jean-Martin Charcot in Paris kennengelernt hatte.

Ö1 Sendungshinweise

Dem Thema widmet sich auch ein Beitrag in Wissen aktuell: 9.12., 13:55 Uhr, und dem Kulturjournal: 9.12., 17:09 Uhr.

Besonders wichtige Patientinnen am Schottenring 7 waren Anna von Lieben und Fanny Moser. Unter den Namen „Cecilie M.“ und „Emmy von N.“ finden sich die beiden als Fallgeschichten in den 1895 erschienenen „Studien über Hysterie“ wieder. Die „Sühnhaus-Fälle“ waren wichtig für die Entwicklung der Psychoanalyse, sagt Thomas Aichhorn, denn durch sie kam Freud „zur Überzeugung, dass seelische Störungen nicht primär Symptome von Körpervorgängen sind, sondern etwas mit innerpsychischen Konflikten zu tun haben. Mittels Hypnose versuchte er dem auf die Spur zu kommen, was die Damen aus ihrem Bewusstsein verdrängt hatten.“

Filmausschnitt: das Sühnhaus auf alten Fotos, dahinter die Landespolizeidirektion Wien, die heute am Schottenring 7 residiert

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Filmausschnitt: das Ringtheater auf alten Fotos, dahinter die Landespolizeidirektion Wien, die heute am Schottenring 7 residiert

Selbsttötung der Pauline Silberstein

Und dann war da noch Pauline Silberstein, die Ehefrau von Freuds Jugendfreund Eduard Silberstein. „Die beiden hat eine innige, schwärmerische, homoerotische Freundschaft verbunden“, sagt Freudexperte Aichhorn. „Sie haben zu zweit eine Akademie gegründet, sich auf Spanisch unterhalten und Spitznamen gegeben, inspiriert durch Figuren von Cervantes.“ Nachdem Silberstein aber wieder in seine Heimat Rumänien zurückkehren musste, endete die Freundschaft. Es herrscht nahezu Funkstille bis 1891, als Silberstein seine viel jüngere Frau Pauline nach Wien schickt, damit Freud ihre Depressionen behandelt.

„Was genau geschehen ist, weiß man heute nicht mehr“, sagt Thomas Aichhorn. „Sicher ist, dass sie sich am 14. Mai 1891 vom obersten Stockwerk des Sühnhauses in den Tod gestürzt hat.“ Auch wenn nicht klar ist, wie lange Silberstein bei Freud in Behandlung war – manche meinen auch, dass sie das gar nicht war, sondern am Tag ihrer Ankunft in Wien direkt zu Freud gefahren ist -, hält Aichhorn ihren Freitod für einen „aggressiven Akt“.

Spekulationen, warum sie ihn begangen hat, gibt es zuhauf: etwa dass sie versucht hat, ein Treffen mit Freud zu vermeiden; oder dass sie zu der Einsicht gekommen ist, dass auch Freud ihr nicht helfen könne; oder aber auch dass Freud in der Behandlung unbeabsichtigt etwas getan hat, dass sie zu der Tat animiert hat. Die Wahrheit wird man vermutlich nie erfahren, da just in den Monaten Mai bis September 1891 eine Lücke in der ansonsten eifrigen Korrespondenz zwischen Freud und seinem Berliner Vertrauten, dem Arzt Wilhelm Fließ klafft. Im riesigen Werk Freuds findet sich nur eine schmale, viel später geschriebene Notiz zu Pauline Silberstein.

Rekonstruktion des Stiegenhauses im Sühnhaus, in das sich Pauline Silberstein gestürzt hat

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Rekonstruktion des Stiegenhauses im Sühnhaus, in das sich Pauline Silberstein gestürzt hat

Ein unheimliches Haus

Sicher ist: Patientinnen wie sie, mit der Freud über ihren Mann emotional verstrickt war, würden Analytiker heutzutage nicht mehr behandeln, sondern zu einem Kollegen schicken. Ebenfalls sicher: Wenige Wochen nach dem Freitod von Pauline Silberstein sind die Freuds aus dem Sühnhaus ausgezogen: Vermutlich war die Wohnung in der Berggasse praktischer für die weiter wachsende Familie, das Unglück von Pauline Silberstein wird dabei aber auch eine Rolle gespielt haben.

Wie wichtig Silbersteins Selbsttötung für das Denken Freuds war, bleibt Spekulation. Der deutsche Psychoanalytiker Friedrich Wilhelm Eickhoff zählte mehrere Reaktionsmöglichkeiten Freuds auf: „neben der Bestürzung und einem Schuldgefühl, Pauline Silberstein nicht gerecht geworden zu sein, auch eine Erleichterung darüber, an diesem Unglück keine Schuld zu tragen.“ Freud selbst schreibt fast 30 Jahre später in seinem Aufsatz „Das Unheimliche“ etwas, das für Eickhoff wie die nachträgliche Verarbeitung des 1891 Erlebten klingt:

„Im allerhöchsten Grade unheimlich erscheint vielen Menschen, was mit dem Tod, mit Leichen und mit der Wiederkehr der Toten, mit Geistern und Gespenstern, zusammenhängt, Wir haben ja gehört, dass manche moderne Sprachen unseren Ausdruck: ein unheimliches Haus gar nicht anders wiedergeben können als durch die Umschreibung: ein Haus, in dem es spukt. Wir hätten unsere Untersuchung mit diesem, vielleicht stärksten Beispiel von Unheimlichkeit beginnen können, aber wir taten es nicht, weil hier das Unheimliche zu sehr mit dem Grauenhaften vermengt und zum Teil von ihm gedeckt ist.“

Lukas Wieselberg, science.ORF.at

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