Schleusen der Unterwerfung

Wenn Zwangsarbeiter aus Osteuropa den Boden Hitler-Deutschlands betraten, dann taten sie das als Menschen zweiter Klasse. Ihre Entlausung war auch ein Akt der Unterwerfung, wie die Historikerin Eva Hallama in einem Gastbeitrag nachweist.

Eine unmittelbare Folge der gewaltsamen Besetzungen ost- wie westeuropäischer Länder durch die deutsche Wehrmacht im Zweiten Weltkrieg war die Einrichtung ziviler Besatzungsregierungen, deren Aufgabe es nicht zuletzt war, die zivile Bevölkerung der besetzten Gebiete zu erfassen.

Eva Hallama

Jan Dreer für IFK

Über die Autorin

Eva Hallama studierte Geschichte in Wien und Sankt Petersburg. Seit März 2016 ist sie DOC-Stipendiatin der Österreichischen Akademie der Wissenschaften am Institut für Zeitgeschichte der Universität Wien. Derzeit ist sie ÖAW/IFK_Junior Fellow.

Veranstaltungshinweis

Am 23.01. hält Eva Hallama einen Vortrag am IFK: Läuse, Fieber, Arbeitstauglichkeit. Medizinische Selektion und Seuchenprävention in NS-„Grenzentlausungslagern“. Ort: IFK, Reichsratsstraße 17, 1010 Wien. Zeit: 18:15 – 20:00 Uhr

Eine zentrale Behörde für diese Funktion waren die Arbeitsämter: Zwangsarbeit wurde zu einem wesentlichen Bestandteil der deutschen Besatzungsmächte.

Doch unterschieden sich die Organisation, die Rekrutierungspraxis, die Arbeits- und Lebensbedingungen der Zwangsarbeiter/innen je nach ihrer Einstufung in die nationalsozialistische „Rassenhierarchie“ enorm.

Einer der Unterschiede zwischen den „West-“ und „Ostarbeiter/innen“, die zwangsweise zur Arbeit ins Deutsche Reich deportiert wurden, war deren Einstufung bezüglich der medizinischen Gefahr, die sie für das Deutsche Reich darstellen würden.

Der Osten als „Krankheitsraum“

Die Ausbeutung der zivilen Bevölkerung Osteuropas als Zwangsarbeiter/innen in Deutschland bot NS-Ideologen nicht nur wirtschaftliche Zweckmäßigkeit.

Sie erkannten darin auch sicherheitspolizeiliche, volksbiologische und medizinische Gefahren für die deutsche Volksgemeinschaft. Der „Ostarbeitseinsatz“ stand für sie im Widerspruch zum Ziel einer bevölkerungspolitischen Neuordnung Europas nach nationalsozialistischen und „rassetheoretischen“ Kriterien.

Auf gesundheitspolitischer Ebene wurde die Bedrohung der ausländischen Arbeitskräfte an Seuchen festgemacht, deren Herkunft dem Osten zugeschrieben wurde, und die – wie es etwa der Hygieniker Heinz Zeiss mit seinem Konzept des „Krankheitsraumes“ tat – in Verbindung mit Kultur und Lebensweise der osteuropäischen Bevölkerung gebracht wurden.

Überträgerinnen des Fleckfiebers

Das über Läuse übertragbare Fleckfieber nahm dabei eine besondere Stellung ein, weil es sich wie keine andere Krankheit für rassistische Metaphern eignete.

Skizze einer Laus

gemeinfrei

Abbildung der Kleiderlaus, Überträgerin des Fleckfiebers (Asa C. Chandler, Animal Parasites and Human Disease, New York 1918, S.390)

Denn der Übertragungsweg durch Läusekot und das Vorkommen in Ost- und Südosteuropa verband das Fleckfieber mit Vorstellungen von Unreinheit, die auf die Bevölkerung Osteuropas übertragbar waren.

Der von der nationalsozialistischen Gesundheitsverwaltung konstatierte hohe „Verlausungsgrad“ der osteuropäischen Bevölkerung, die „niedrige Kulturstufe“ und die geringen hygienischen Standards des „bolschewistischen Gesundheitssystems“ wurden von NS-Medizinern dementsprechend als Ursache dafür festgemacht, dass das Fleckfieber in diesen Regionen nicht wie in Mittel- und Westeuropa nach dem Ersten Weltkrieg eingedämmt worden war.

Grenzentlausungslager

Fritz Sauckel, der seit März 1942 als „Generalbevollmächtigter für den Arbeitseinsatz“ für die Deportationen der Zwangsarbeiter/innen in Millionenhöhe verantwortlich war, gab am 30. Dezember 1942 ein „Merkblatt über gesundheitliche Maßnahmen bei Ostarbeitern“ heraus.

Hier legte er fest, dass die „Ostarbeiter/innen“ vor ihrem Arbeitseinsatz im Deutschen Reich mehrmals medizinisch untersucht und entlaust werden sollten, damit ihre Eignung für den Arbeitseinsatz im Deutschen Reich festgestellt, und Seucheneinschleppung vermieden werden könnten. Die Entlausung, die auf die medizinische Untersuchung folgen sollte, war der Prävention des Fleckfiebers geschuldet und für alle „Ostarbeiter/innen“ obligatorisch, unabhängig davon, ob sie Fleckfieber oder Läuse hatten.

Die zentralen Institutionen, die dieses Vorhaben durchführen sollten, waren 15 zivil verwaltete „Grenzentlausungslager“ sowie acht Wehrmachtseinrichtungen, die für die Durchschleusung der Zwangsarbeiter/innen dann in Betracht kamen, wenn die Kapazitäten der zivilen Lager nicht ausreichten. Die meisten dieser Lager befanden sich auf dem Gebiet des heutigen Polen.

Reine Seite – unreine Seite?

Die Zwangsarbeiter/innen durchliefen die Lager von der „unreinen Seite“ kommend und verließen sie – sofern sie für das Deutsche Reich als arbeitseinsatzfähig befunden wurden – auf der „reinen Seite“ wieder.

Für die Entlausung mussten die Zwangsarbeiter/innen ihre Sachen und die gesamte Kleidung abgeben, die in Entwesungskammern mit Heißluft, Wasserdampf oder Giftgas behandelt wurden, um die darin befindlichen Läuse zu töten. Parallel zur Sachentwesung erfolgte die körperliche Entlausung.

Dabei wurden die Zwangsarbeiter/innen nach Läusen abgesucht und mit Desinfektionsmittel behandelt. Es konnte vorkommen, dass aufgrund von Läusen Kopf-, Achsel- und Schamhaare rasiert wurden.

Menschen zweiter Klasse

Die medizinischen Untersuchungen, die Entlausung und Desinfektion fanden im Zuge der Deportationen ins Deutsche Reich, an den letzten Stationen vor Überschreiten der Reichsgrenze statt und sollten bei der Ankunft im Reich wiederholt werden.

An die Prozedur der medizinischen Beschau erinnern sich ehemalige Zwangsarbeiter/innen wie an einen Sklavenmarkt, die Entlausung und die Form der Massenabfertigung wird in lebensgeschichtlichen Erzählungen häufig als entmenschlichend und entwürdigend beschrieben. Die Wirksamkeit der „Grenzentlausungslager“ hörte daher nicht bei ihrer Funktion als Schleusen der Seuchenprävention und des Grenzschutzes auf.

Die beschämende und auf dem NS-Rassismus beruhende Praxis in den Lagern war auch dazu imstande, den Zwangsarbeiter/innen ihren neuen Status als Menschen zweiter Klasse zuzuweisen. Nur mit dem Stigma der Unreinheit, des Kranken und des Dehumanisierten sollten sie die Grenzen ins Deutsche Reich passieren.

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