Wettlauf zum neuen Kilo

Seit Jahren liefern einander Wissenschaftler einen Wettlauf bei der Suche nach einem neuen Fundament der Physik. Es geht um die Frage: Wie kann man das Pariser Urkilo durch eine präzise Messmethode ersetzen? Ende Juni fällt die Entscheidung.

Seit 1889 liegt in einem Vorort von Paris ein Platin-Iridium-Zylinder unter Verschluss - das Urkilogramm. Doch sein kleiner Makel plagt die Wissenschaftswelt: Das Urkilo hat an Gewicht verloren. 50 Mikrogramm - also 50 Millionstel Gramm - haben sich im Laufe eines Jahrhunderts scheinbar in Luft aufgelöst. „Das ist sehr, sehr wenig und im Grunde merkt man das im Alltag nicht“, erklärt Henri Baumann vom Schweizer Metrologieinstitut METAS bei Bern.

Dennoch ist es mehr als ein Schönheitsfehler, denn das Urkilogramm definiert exakt, was ein Kilogramm ist - egal ob es 50 Mikrogramm zu leicht ist oder in der Hälfte auseinanderfällt - es ist und bleibt ein Kilo. So lautet die aktuelle Definition. Die Welt wäre im letzteren Fall nur doppelt so schwer und ein Kilo Gold oder Weizen plötzlich doppelt so teuer.

Diese Unsicherheit wollen die Hüter des Gewichts beseitigen und das Kilogramm über eine Naturkonstante neu definieren. Über eine Konstante, die unveränderlich ist und nicht wie bisher über ein Objekt, das Masse verlieren kann. In Japan, der Schweiz, Kanada, Deutschland und den USA versuchen sich Wissenschaftler nun an Genauigkeit zu überbieten. Letztlich wollen sie neu festlegen, was ein Kilogramm ist. Bis Ende Juni haben die Wissenschaftler Zeit, eine neue Definition einzureichen, die den internationalen Anforderungen entspricht.

Glatt und spiegelnd: Silizium-Kugel

Hutsteiner/ORF

Die Atome dieser Kugel könnten das Urkilo ablösen

„Am Anfang war das noch relativ entspannt. Aber nachher setzt man sich selbst praktisch unter Zugzwang, um immer wieder besser zu werden und das Erreichte selbst noch einmal zu überbieten“, erklärt Arnold Nicolaus, Physiker an der Physikalisch Technischen Bundesanstalt (PTB) in Braunschweig. In der Hand hält er eine schwarz-grau glänzende Kugel. Es ist die perfekteste, von Menschenhand angefertigte Kugel der Welt - die Siliziumkugel.

Die Eine-Million-Euro-Kugel

Es ist das Experiment, mit dem die PTB ins Rennen um die Neudefinition des Kilogramms geht. Dabei geht es weniger um die schön glänzende Kugel selbst, sondern um ihren Inhalt - die Silizium-Atome. Genauer Silizium-28, eines der drei stabilen Silizium Isotope. Die Atome sitzen im Kristallgitter in exakt gleichem Abstand voneinander - und ihr Gewicht verändert sich nicht - auch in einhundert Jahren nicht. Die Frage, die sich die Forscher aus Braunschweig also stellen, ist: Wie viele Atome ergeben ein Kilogramm? Die Antwort liegt sehr wahrscheinlich im Bereich von 21 Quadrillionen, eine Zahl mit 24 Nullen.

Hergestellt wurde der hochreine Rohkristall in russischen Atomzentrifugen. Kostenpunkt: Eine Million Euro. „Zu wissen, dass man da gerade mit einer runden Million fuhrwerkt, das ist schon ein interessantes Gefühl“, erklärt Rudolf Meeß vom PTB. Der Ingenieurswissenschaftler ist dafür zuständig, die Kugel so rund wie nur menschenmöglich zu machen. Nur so können seine Kollegen später genau berechnen, wie viele Si-28-Atome sich in einer Kugel befinden.

Rudolf Meeß und seine Mitarbeiter in der Werkstatt

Hutsteiner/ORF

Rudolf Meeß und seine Mitarbeiter in der Werkstatt

„Wir wissen nun, wie viele Atome in einen Zentimeter passen. Deshalb muss man „nur“ noch den Durchmesser der Kugel messen, um das Volumen rauszufinden. Dann weiß man, wie viele Atome in der Kugel sind. Das multiplizieren wir mit der Masse von Silizium-28 und haben dann sofort die Masse dieser Kugel“, erklärt Arnold Nicolaus, der für das Vermessen der Kugeln verantwortlich ist.

Allerdings ist keine Kugel perfekt glatt und keine Kugel gleicht der anderen - das schaffen Rudolf Meeß und sein Team noch nicht. Vergrößert man die Oberfläche, sehen die Kugeln zum Teil eher wie runde Kartoffeln aus, mit einigen Dellen, Warzen und Hügeln. Auch sie muss der Physiker Arnold Nicolaus genau vermessen. „Würden wir hier sagen, wir messen nur an zwei Stellen, dann kann man´s eben verpassen - wenn man gerade über ein Maximum gemessen hat, dann würde man die Kugel überschätzen.“

Das Blatt im 10-km-Papierstapel

Über das Experiment wollen die Braunschweiger das Gewicht eines Kilos mit der Planck Konstante h verknüpfen. Eine Basisgröße aus der Welt der Quantenphysik. Sie beschreibt die kleinstmögliche Energieeinheit, die in der Physik entweder abgegeben oder aufgenommen werden kann. Noch ist der Wert der Konstante allerdings nicht in Stein gemeißelt, sondern hat eine Unsicherheit ab der achten Kommastelle. Das sollen die Wissenschaftler nun ändern: Wer es schafft, die Konstante exakt zu bestimmen, definiert das Kilogramm neu. „Wenn man sich jetzt einen Stapel Papier von 10 Kilometer Höhe vorstellt, dann müssen wir in der Lage sein, rauszukriegen, welches Blatt Papier falsch hingelegt ist. Das entspricht etwa der Genauigkeit des Experiments. Wir müssen also auf die achte Stelle nach dem Komma genau messen“, erklärt Henri Baumann vom Schweizer Metrologieinstitut METAS bei Bern. Nur so würde sich durch die Neudefinition nichts verändern.

Henri Baumann im Labor

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Henri Baumann und seine Waage

Er tüftelt hinter streng verschlossenen Türen an einer Präzisionswaage - ein völlig anderer Ansatz, um das Kilogramm neu zu definieren: „Bis auf die Planck´sche Konstante und die Tatsache, dass man versucht, als Ausgangspunkt das Kilogramm zu erhalten, sind die Experimente nicht vergleichbar“, erklärt Baumann.

Anstatt die Masse eines Kilos von einer bestimmten Anzahl von Atomen abzuleiten, soll die Waage in der Lage sein, ein Kilogramm genau zu wiegen. Doch was der Physiker Henri Baumann mit seinem Kollegen hier im Keller des eidgenössischen Metrologieinstituts METAS aufgebaut hat, ähnelt optisch kaum einer herkömmlichen Waage, sie funktioniert im Prinzip aber ähnlich: „Man hat vorne dran ein Gewicht und auf der anderen Seite wird eine elektromagnetische Kraft erzeugt, um dieses Gewicht dann zu kompensieren.“

Erzeugt wird die elektromagnetische Kraft durch eine Kupferspule, die sich in einem Magnetfeld befindet. Durch sie müssen die Wissenschaftler so viel Strom fließen lassen, bis das elektromagnetische Feld stark genug ist, um das Gewicht auf der anderen Seite auszubalancieren. Die Forscher messen also, wie viel elektromagnetische Leistung notwendig ist, um das Gewicht von einem Kilo waagrecht zu halten. Als Referenz dient das Urkilo. Auf diese Weise können die Forscher sicher gehen, dass die normalen Waagen der Welt nach der Neudefinition nicht plötzlich ein anderes Gewicht anzeigen.

50 Mikrogramm: Nur eine These

Während Forscher weltweit daran arbeiten, das Urkilogramm - auch le Grand K genannt - vom Thron zu stoßen, ist dieses sicher verwahrt im internationalen Büro für Maß und Gewicht (BIPM) in Sévres, einem kleinen Vorort von Paris. Wo genau es sich auf dem Areal befindet, ist ein gut gehütetes Geheimnis. Einmal im Jahr wird der Safe geöffnet, um Temperatur, Druck und Feuchtigkeit zu kontrollieren und um einfach nachzusehen, ob das Kilo noch da ist. Seine Schutzhülle, die aus drei übereinander gestülpten Panzer-Glasglocken besteht, hat das Kilo bisher nur drei Mal verlassen - dreimal in 128 Jahren.

Doch trotz aller Vorsicht konnte man nicht verhindern, dass 50 Mikrogramm über die Jahrzehnte einfach verschwanden. Doch das ist nur eine These, sagt Richard Davis vom BIPM. „Es könnte auch sein, dass die anderen Prototypen, mit denen das Urkilo im Lauf der Zeit verglichen wurde, alle schwerer geworden sind. Es ist zwar unwahrscheinlich. Letztlich wissen wir es aber nicht.“ Um sicher zu gehen, müsste man in die Vergangenheit reisen und das heutige Urkilo mit sich selbst vergleichen.

Wattwaage im Endspurt

Seit 20 Jahren arbeitet man im Schweizer METAS bereits an der Wattwaage. Doch noch scheint das Experiment nicht zu funktionieren: „Irgendwo ist noch ein systematischer Fehler. Die Gesamtmessunsicherheit des Experimentes ist noch nicht gut genug, damit man einen Wert mit Vertrauen publizieren kann.“ Die Zuversicht, dass die Lösung in den nächsten drei Monaten kommt, verlässt Baumann nicht: „Man muss immer zuversichtlich sein. Es ist ein risikobehaftetes Experiment, das ist so.“

Die Braunschweiger Konkurrenten an der PTB hingegen können nach jahrelanger Forschung ihre Kugeln so präzise herstellen, vermessen und berechnen, dass sie damit die Planck-Konstante auf die erforderliche achte Kommastelle bestimmen können. Dem deutschen Institut könnte es also gelingen, die Planck-Konstante und das Kilogramm zu definieren.

Ohne einer Wattwaage wäre ihr Wert allerdings nutzlos. Denn die internationalen Vorschriften sehen vor, dass die Planck Konstante von zwei unabhängigen Experimenten definiert wird. „Hätte man nur ein Ergebnis von einem Experiment, könnte man nie sicher sein, ob der Wert der Planck-Konstante auch stimmt. Das Experiment könnte ja einen unerwarteten Fehler haben. Deshalb braucht es zwei unterschiedliche Ansätze. Das schafft großes Vertrauen“, erklärt Richard Davis.

Selbst wenn die Forscher aus Bern nicht mehr rechtzeitig einen Wert publizieren können, scheint die geplante Neudefinition des Kilogramm gesichert. Denn auch in den USA und der Kanada forschen Wissenschaftler an einer Wattwaage - sie haben bereits Werte eingereicht, die genau genug sind, heißt es.

Neue Definition ab Mai 2019

Für die Neudefinition der Konstante wird dann der Mittelwert aus allen Experimenten berechnet, die rechtzeitig einen genauen Wert abliefern. „In der Generalkonferenz Ende nächsten Jahres soll dann die Neudefinition des Urkilogramms über den Wert der Planck-Konstante offiziell beschlossen werden. In Kraft tritt sie erst im Mai 2019.“, sagt Richard Davis vom BIPM. Auf diese Weise haben alle nationalen Metrologieinstitute genug Zeit, sich auf die Zeit nach dem Urkilogramm einzustellen und zu entscheiden, wie sie das Kilogramm künftig realisieren wollen.

In Neuseeland oder Korea baut man derzeit an einer eigenen, nationalen Wattwaage. In Österreich hingegen wird man eine Siliziumkugel kaufen, heißt es aus dem Bundesamt für Eich- und Vermessungswesen. Allerdings kein hochreines Silizium-28. Eine billigere Kugel, mit gemischten Silizium-Isotopen tut es hierzulande auch.

Das Urkilogramm wird mit der Neudefinition zu einem Kilogramm von vielen. Sein Gewicht wird künftig wie alle Massen mit Hilfe der unveränderlichen Planck-Konstante bestimmt. Das Rätsel aber, ob es nun tatsächlich 50 Millionstel Gramm verloren hat, das bleibt ungelöst.

Ruth Hutsteiner, Ö1 Wissenschaft

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