Wie der Paradigmenwechsel die Welt eroberte

In einem schmalen Werk war vor 50 Jahren erstmals auf Deutsch vom „Paradigmenwechsel“ zu lesen. Thomas S. Kuhn beschrieb damit Umbrüche der Wissenschaft. Heute ist der Begriff fix in der Alltagssprache verankert.

„The Structure of Scientific Revolutions“ - so lautet der Originaltitel des 1962 erschienenen Buchs von Thomas S. Kuhn. Fünf Jahre später war das Werk unter dem originalgetreuen Titel „Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen“ auch auf Deutsch erhältlich. Die Kernthese des Wissenschaftsphilosophen: Wissenschaftlicher Fortschritt finde oft in Form von Revolutionen - sogenannten Paradigmenwechseln - statt. D.h., sie verändern bestehende Weltanschauungen grundlegend. Ein berühmtes Beispiel ist der Übergang vom geozentrischen zum heliozentrischen Weltbild, bei dem der Mensch nicht länger im Mittelpunkt steht.

Üblicherweise werden wissenschaftstheoretische Abhandlungen wie die von Kuhn nur in engen Fachkreisen diskutiert. Die Idee des Paradigmenwechsel war zwar umstritten, wurde jedoch recht schnell in anderen Disziplinen rezipiert. Aber nicht nur die Wissenschaften fanden Gefallen an dem Begriff, auch in der Populär- und Alltagskultur war auf einmal immer häufiger von Paradigmenwechseln die Rede. In der Medien- und Marketingsprache wird der Begriff bis heute für - mehr oder weniger - große Umbrüche verwendet.

Im Gespräch mit science.ORF.at erklärt der Kulturwissenschaftler Thomas Macho, warum der Begriff aus seiner Sicht so einflussreich und attraktiv war und ist. Seine alltagsprachliche Verwendung habe allerdings nicht mehr viel mit der ursprünglichen Idee zu tun.

Porträtfoto des Kulturwissenschaftlers Thomas Macho

Jan Dreer für IFK

Thomas Macho ist Professor für Kulturgeschichte an der Humboldt-Universität zu Berlin und Direktor des Internationalen Forschungszentrums Kulturwissenschaften in Wien.

Wann sind Sie das erste Mal den Ideen von Thomas Kuhn begegnet?

Thomas Macho: Wenn man sich mit wissenschaftsgeschichtlichen Fragestellungen beschäftigt, stößt man bald auf Kuhn. Denn das Buch ist relativ schnell zum Klassiker geworden. Die Liste der Bücher, die in dieser Disziplin einen kanonischen Status erlangt haben, ist kurz. Thomas Kuhn gehört eindeutig dazu.

Was hat das Buch so schnell populär gemacht?

Die Idee, dass es auch Revolutionen im Denken gibt, die nicht im Sinne des traditionellen Revolutionsbegriffs durch Aufstände, Revolten, Unruhen, Parteien, etc. verursacht werden. Das Buch, das eine der größten Revolutionen im Denken ausgelöst hat, hieß passenderweise De revolutionibus orbium coelestium von Nikolaus Kopernikus. Die Idee von Kuhn, genau solchen wissenschaftlichen Revolutionen - also den Paradigmenwechseln - auf die Spur zu kommen, hat enormen Einfluss genommen.

Der Einfluss hat sich später in allen möglichen Lebensbereichen gezeigt, bis in die Alltagskultur. Heute spricht man selbst in Bezug auf neue Mobiltelefone von einem Paradigmenwechsel. Haben Sie eine Idee, wie das passieren konnte?

Es gibt tatsächlich nicht viele Begriffe, die eine solche Karriere antreten und sich dann auch so erfolgreich in den unterschiedlichsten Kontexten verankern können - und der Paradigmenwechsel zählt sicher dazu. Für meine eigene Disziplin - also der Kulturwissenschaft - spielt der Begriff des Turns (dt.: „Wende“) eine ähnliche Rolle. Auch seine Prominenz hat viel mit dem Image und dem Schatten des Paradigmenwechsel zu tun. Wobei man dazu sagen muss, dass nicht alle Turns richtige Paradigmenwechsel gewesen sind, meist ging es nur um die Verschiebung der Aufmerksamkeit. Beim Paradigmenwechsel - so wie Kuhn ihn propagiert hat - geht es um mehr, wie am Beispiel des Übergangs vom ptolemäischen (geozentrischen) zum kopernikanischen (heliozentrischen) Weltbild deutlich wird.

Was hat den Begriff für die Alltagskultur so attraktiv gemacht? Der Paradigmenwechsel hält sich schon viel länger, als das Modewörter üblicherweise tun?

Das ist schwer zu sagen. An solchen Beispielen erkennt man, dass Sprache doch etwas Lebendiges ist. Man kann sagen: In dem Moment, wo ein Begriff nicht nur der Begriff von Spezialisten ist, sondern in die Umgangssprache einfließt, kann er so eine Karriere antreten, wie sie der Paradigmenwechsel angetreten hat. Warum das aber passiert, das liegt im Verborgenen. Vielleicht beschreibt der Begriff etwas, was uns seither immer plausibler vorkommt: nämlich dass sich festgefügte Wahrnehmungs- und Beurteilungskonventionen ändern können. Dafür war gerade 1967 ein fantastisches Jahr, weil damals so viele Neuerungen anfingen. Es häuften sich Proklamationen eines neuen Zeitalters, einer neuen Sicht auf die Welt.

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D.h., die Geburtsstunde des Paradigmenwechsels fällt selbst in eine Zeit des Paradigmenwechsels?

Das könnte einer der Gründe sein, warum der Begriff so erfolgreich war - weil man das Gefühl hatte, er beschreibt etwas, was wir gerade aktuell erleben. David Spanglers (Visionär der New Age-Bewegung, Anm.) Buch „The Birth of New Age“ ist z.B. nur wenige Jahre später erschienen.

Ist die heutige Verwendung, z. B. in der Marketingsprache, vielleicht auch nur der Versuch die Größe einer Änderung zu beschreiben?

Ja, er zeigt, dass sich ein ganzes System ändert.

Wirkt ein Begriff wie der des Paradigmas nicht umgekehrt auch wieder auf die Weltsicht? Man könnte ihm unterstellen, dass er vieles relativiert hat, und dadurch alles nur eine Frage der Sichtweisen und nicht der Wahrheit ist, Stichwort alternative Fakten.

Das ist ein wichtiger Punkt, den sie ansprechen, aber dabei muss man eben festhalten, dass ein Paradigmenwechsel mehr als ein Perspektivwechsel ist. Ein Paradigma nach Kuhn ist nicht nur eine Sichtweise, sondern die Organisation von Sichtweisen - deswegen heißt das Buch ja auch „Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen“. Struktur beschreibt schon, was mit Paradigma gemeint ist: ein Ordnungsprinzip. Ein solches kann ich gar nicht wahrnehmen, sondern es organisiert meine Wahrnehmung. Das ist die Art und Weise, wie wir die Welt erfahren.

Was ist der Unterschied zu alternativen Fakten? Nehmen wir z.B. den Klimawandel: Könnten nicht die, die nicht daran glauben, behaupten - dahinter stecke einfach ein anderes Paradigma, „wir sehen die Welt anders“?

Da muss man sehr aufpassen - das ist, wie wenn man Evolutionisten mit Kreationisten streiten lässt, und das ist eigentlich Unfug. Kreationisten haben an den Tischen, an denen Evolutionstheoretiker diskutieren, nichts verloren. Sie argumentieren vor einem ganz anderen Hintergrund. Natürlich könnte man dazu Paradigma sagen, aber da macht der Begriff überhaupt keinen Sinn.

Es macht einen Unterschied, ob ich behaupte, dass das, was in der Bibel steht, wahr ist, und ich daher komplizierte Anpassungen der Wirklichkeit an diese Beschreibungen vornehmen muss, oder ob ich mich mit Genen und evolutionstheoretischen Modellen, die auf empirischen Beobachtungen der Wirklichkeit beruhen, auseinandersetze. Und ähnlich sehe ich das bei der Debatte um den Klimawandel. Ich glaube nicht an alternativen Fakten. Ich glaube vor allem nicht daran, dass das schon unterschiedliche Paradigmen sind. Paradigmen sind wirklich große Ordnungssysteme, die sich tatsächlich auch ändern können.

Also im Sinne Kuhn ist der Paradigmenwechsel immer nur dieses ganz Große, wie die Kopernikanische Wende, also echte Revolutionen?

Sigmund Freud hat übrigens die Idee formuliert - und dadurch natürlich auch seine eigenen Theorien aufgewertet-, dass solche großen Denkrevolutionen immer mit großen Kränkungen einhergehen: die kopernikanische Wende, die evolutionistische und die psychoanalytische Wende. Die erste große Kränkung war, dass die Erde gar nicht im Mittelpunkt des Kosmos steht, sondern ein x-beliebiger Planet in einem unendlich großen System ist. Die zweite große Kränkung: Der Mensch ist nicht von Gott geschaffen, sondern stammt vom Affen ab. Die dritte: Er ist nicht einmal als Subjekt Herr im eigenen Haus, sondern er wird von Trieben und unbewussten Motiven geleitet. So gesehen muss ein Paradigmenwechsel immer auch wehtun. Er muss irritieren, er muss verblüffen, die ganzen Lebensbedingungen ändern.

D. h. aber, die alltagsprachliche Verwendung des Begriffs Paradigmenwechsel hat sich weit von diesen großen Revolutionen entfernt?

Ja, wenn ich im Fußballsystem oder bei einer neuen Musikrichtung von Paradigmenwechseln spreche, ist das vergleichsweise lächerlich, wenn man das mit dem Anspruch vergleicht, den die Theorie versucht hat zu erfüllen.

Was meinen Sie: Hat Kuhn selbst damit gerechnet, dass er einen solch weitreichenden Begriff in die Welt setzt?

Vermutlich nicht. Die meisten Denker wissen im Augenblick des Schreibens nicht, was das für Effekte auslösen wird. Ich glaube, er war selbst von der Wirkung auch ein Stück weit überrascht.

Und die Theorie war ja zu Beginn auch recht umstritten?

Es sind ihm keineswegs sofort alle gefolgt. Kein Wunder, wenn man eine Theorie aufstellt, die das bewirken soll, wovon sie handelt, nämlich einen Paradigmenwechsel. Wissenschaften sind konservative Gebilde. Auch das ist eine Botschaft von Kuhns Theorie: Neue Paradigmen müssen sich erst gegen viele Widerstände durchsetzen. Altes Wissen lebt in sozialen Systemen - das lässt sich nicht von heute auf morgen wegpusten.

Interview: Eva Obermüller, science.ORF.at

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