Warum wir von Musik Gänsehaut bekommen

Etwa 70 Prozent aller Menschen kennen die plötzlichen wohligen Schauer auf der Haut, wenn sie Musikstücke hören. Warum Musik ein Kribbeln auslösen kann, haben deutsche Forscher nun untersucht.

Evolutionär ist die Gänsehaut vermutlich da, um auf Kälte zu reagieren: ein Wärmereflex, bei dem sich die Haare aufstellen. Auch wenn das beim eher spärlich behaarten Genus Homo wahrscheinlich nicht mehr viel bringt, war es in der menschlichen Urzeit ein nützlicher Reflex, der wohl irgendwann auf andere Reize konditioniert wurde.

Heute kennt man Gänsehaut unter anderem bei Angst, saurem Essen oder lauten Geräuschen – vor allem aber, wenn uns etwas umgangssprachlich „unter die Haut geht“, uns emotional berührt. Und auch wenn nicht alle Menschen den Gänsehauteffekt bei Musik erleben, bei fast allen löst Musik besondere Gefühle aus.

Die Gänsehaut stelle eine „besondere Qualität“ dieser Empfindungen dar, sagt der Mediziner und Musiker Eckart Altenmüller von der Hochschule für Musik, Theater und Medien in Hannover. In einer großangelegten Studie wollten er und sein Team herausfinden, bei wem die Gänsehaut vorkommt und was in der Musik diese in der wissenschaftlichen Literatur auch als „Chill- Effekt“ bekannte Reaktion auslöst.

Zerbrechlicher Effekt

So luden die Forscher hunderte zuvor nach ihrer „Gänsehautmusik“ befragte Menschen ins Labor, um die körperlichen Reaktionen auf die Musik zu messen: Schwitzen, Herzschlag, Blutdruck, Muskelaktivität oder Hirnströme.

Altenmüller hoffte darauf, irgendwelche Universalien festmachen zu können - vielleicht eine Stimme, ein besonders schöner Sopran, der bei allen zieht, oder ein bestimmter Rhythmus. Aber es zeigte sich vor allem, wie schwierig die Gänsehaut zu verstehen ist.

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Dem Thema widmet sich auch ein Beitrag in Wissen aktuell am 7.4. um 13.55

In der Tat ließ sie sich nicht immer auf Kommando hervorrufen, in einigen Fällen löste die persönliche verbürgte Gänsehautmusik gar nichts aus, denn der Gänsehautreflex sei ein „sehr zerbrechlicher“, wie Eckart Altenmüller erklärt: Die tiefe Empfindung ist ein komplexes Zusammenspiel verschiedener Faktoren; unter anderem spielen Umgebung, Außentemperatur oder Aufregung eine Rolle. Genauso müsse man sich auf die Musik einlassen können.

Wenig Universalien

Dennoch funktionierte es bei vielen Versuchspersonen und so fand Altenmüller, dass es eine kleine Gemeinsamkeit der wohligen Schauer gibt: „Und das ist der Beginn von etwas Neuem, ein musikalischer Strukturbruch. Alles andere - welches Genre, welche Akkorde, welche Stimmen - das hing eigentlich von der eigenen Erfahrung des Hörers ab.“

Denn schließlich haben die Gänsehauthörer eine besonders intensive Empfindung - und die emotionale Reaktion auf Musik ist zum größten Teil gelernt, weiß Eckart Altenmüller. Es gebe nur wenige musikalische Universalien: grundlegende Emotionen wie Trauer würden natürlich eher langsam, Wut eher laut gespielt.

Dabei ist interessant, dass wir solche Grundemotionen auch aus Sprachmelodien fremder Sprachen recht treffsicher herauslesen können – auch dazu gibt es Studien. Aber sonst, so der Musikforscher, ist der emotionale Gehalt von Musik vor allem geprägt von unseren persönlichen Assoziationen mit manchen Stilen und von der Art, wie wir in unserem Umfeld gelernt haben, Musik zu verstehen.

Weinen statt Death Metal

Warum nur etwas mehr als zwei Drittel der Menschen das Phänomen erleben? Laut Altenmüller gibt es „Gänsehautpersönlichkeiten“: meist Menschen, die besonders empfindsam sind, die dazu neigen zu weinen, und denen allzu starke Reize unangenehm sind – also weniger die Fans von Death Metal oder Adrenalinsportarten. Auffällig viele der Gänsehautpersönlichkeiten würden auch in sozialen Berufen arbeiten, erzählt Altenmüller – Ärztinnen, Krankenschwestern oder Pfleger sind eher dabei als Ingenieure und Mathematikerinnen.

Was für Altenmüller gut zu seiner Annahme passt, woher die Musik und die Gänsehaut kommen: einzig beim Menschen gebe es eigene musikverarbeitende Areale im Gehirn, kein anderes Tier sei so auditiv ausgerichtet – kein anderes Tier auch so gut sozial organisiert.

Die akustische und emotionale Information könnte den Urmenschen geholfen haben, Gruppen zu organisieren und so einen entscheidenden Überlebensvorteil geboten haben. Und das könnte auch erklären, warum wir Gänsehaut bekommen. Natürlich könne man nur Vermutungen anstellen, sagt Eckart Altenmüller offen, aber es könnte ganz ursprünglich mit der Mutter-Kind-Bindung zu tun haben – auch bei Affen kenne man anekdotisch den Reflex, dass sich bei abgelegten Affenbabys die Haare aufstellen, wenn sie den Ruf der Mutter hören.

Isabella Ferenci, Ö1 Wissenschaft

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