Die Lebenswissenschaft „Ethik“

DNA-Eingriffe, künstliche Organe und Organismen: Die Life Sciences werden technisch immer besser. Ein umfassendes Verständnis von „Leben“, liefern sie aber nicht, so der Theologe Ulrich Körtner. Die Lebenswissenschaft in der Antike war die Ethik, erinnert er in einem Gastbeitrag.

Die modernen Lebenswissenschaften machen es möglich: künstliche Organismen aus dem Labor. Synthetische Biologie nennt sich dieser neue Forschungszweig. Wird das Leben neu erfunden? Tatsächlich träumen Pioniere wie Craig Venter davon, Organismen nicht mehr wie schon bisher genetisch zu modifizieren, sondern gänzlich künstliche biologische Systeme und Organismen herzustellen. Doch davon ist die Wissenschaft noch weit entfernt.

Porträtfoto von Ulrich Körtner

Ulrich Körtner

Der Autor

Ulrich H.J. Körtner ist Vorstand des Instituts für Ethik und Recht in der Medizin und am Institut für Systematische Theologie und Religionswissenschaft der Evangelisch-Theologischen Fakultät, Universität Wien, tätig.

Immerhin gelang es Venter, der auch bei der Entschlüsselung des menschlichen Genoms eine Vorreiterrolle gespielt hat, 2010, ein künstlich hergestelltes Genom in ein Mycoplasma-Bakterium einzubauen, aus dem man zuvor den Zellkern entfernt hatte.

Die Medien titelten, Venter habe eine künstliche Zelle geschaffen. Aber streng genommen handelte es sich eben nicht um ein gänzlich synthetisches Bakterium, sondern um eine synthetisch veränderte Zelle, die an sich auf natürlichem Wege entstanden war. Synthetisch ist das Bakterium nur insofern, als alle seine Tochterzellen ihre Proteinbestandteile nach den Erbinformationen bilden, die sich auf dem synthetischen Chromosom befinden.

Noch besteht „organische Kontinuität“

Dass die Wissenschaft auf dem Sprung ist, das Leben als solches neu zu erfinden, ist deshalb etwas übertrieben. Abgesehen davon, dass völlig neu konstruierte künstliche Organismen die bisher in der Natur vorkommenden Formen von Leben als Vorbild nehmen müssten, um mit dem Begriff Leben tituliert werden zu können, besteht bei den bisher bekannt gewordenen Experimenten eine „organische Kontinuität“ (Christoph Rehmann-Sutter).

Die synthetische Biologie konstruiert und interpretiert biologische Systeme und Organismen, nach Art einer Maschine. Das verbindet die synthetische Biologie mit den Converging Technologies. Es handelt sich hierbei um den kombinierten Einsatz von Nano-, Bio-, Informations- und Kognitionswissenschaften und -technologien, für die das Kürzel NBIC steht. Converging Technologies erlauben völlig neuartige Kombinationen von biologischem und nichtbiologischem Material.

Durch Converging Technologies werden die Grenzen zwischen belebter und unbelebter Materie, zwischen Gehirn und Computer, zwischen organischen Kohlestoff- und anorganischen Siliziumverbindungen fließend. So entstehen neue Möglichkeiten, das Leben von Mensch und Tier durch menschliche Eingriffe zu verändern. Betroffen sind nicht nur Anfang und Ende des Lebens, sondern der gesamte Lebensverlauf.

Alte Debatte zu neuen Techniken

Aber auch die Gentechnik macht große Fortschritte. Genom-Editing, Crispr-Cas9 und TALENs heißen die neueste Hoffnung der Biomedizin: Gen-Scheren, mit deren Hilfe noch viel präzisere Eingriffe als bisher in das Erbgut möglich werden sollen, z.B. zu therapeutischen Zwecken.

Synthetische Biologie, Converging Technologies und Genom-Editing werfen ethische Fragen auf. Viele der jetzt diskutierten Fragen und Probleme der Technikfolgenabschätzung sind allerdings nicht neu. Wir kennen sie aus der Gentechnikdebatte der 1980er und 1990er Jahre. Die nun mögliche Eingriffstiefe in das Erbgut verleiht der Diskussion aber eine neue Dimension. Mit Hilfe der Gen-Schere Crispr-Cas9 lassen sich möglicherweise Keimbahnzellen so verändern, dass Erbkrankheiten nicht weiter verbreitet werden.

Die Hoffnung, bestimmte Erkrankungen auf gentechnischem Wege ganz auszurotten, bekommt durch das Genom-Editing neue Nahrung. Allerdings sind die möglichen Neben- und Folgewirkungen einer Veränderung des menschlichen Erbgutes derzeit noch kaum abschätzbar. Die Gen-Scheren schneiden zum Beispiel nicht immer so präzise wie erhofft. Ganz so einfach und sicher ist die Methode offenbar doch noch nicht.

Wie die Gesellschaft einbinden?

Manche Experten halten unbeabsichtigte Mutationen für vorstellbar. Kritiker des Genom-Editing argwöhnen, die neue Methode sei ein weiterer Schritt auf dem Weg zum Designermenschen. Die genetischen Veränderungen werden auf die kommenden Generationen übertragen. Auch werden negative Auswirkungen auf das Ökosystem und die Artenvielfalt befürchtet.

Die Frage stellt sich, wie die Gesellschaft insgesamt in die komplexe biopolitische und bioethische Debatte eingebunden werden kann. Es geht dabei nicht nur um die gesellschaftlichen und kulturellen Folgen, die es hat, wenn das Leben immer mehr als technisches Produkt statt als Gabe verstanden wird, und auch nicht nur um Fragen der Menschenwürde, sondern auch um Gesichtspunkte des Tierschutzes, von Tierethik und Tierrechten. Ethik darf dabei nicht zum Feigenblatt der Forschungspolitik verkomme

Nüchternheit ist gefragt

Wie schon bei der Gentechnik und der Stammzellenforschung gibt es gute Gründe, sowohl den visionären Versprechen der Forscher, schon bald gebe es neue medizinische Durchbrüche und Fortschritte, als auch übertriebenen Gefahrenszenarios mit Nüchternheit entgegenzutreten. Auch die Ethik ist gut beraten, ihren eigenen Betrieb in Wissenschaft und Politikberatung selbstkritisch zu beleuchten.

Ethische, rechtliche und sozialwissenschaftliche Begleitforschung mag sinnvoll sein. Sie steht aber auch in der Gefahr, Probleme herbeizureden oder zu übertreiben, um die eigene gesellschaftliche Relevanz unter Beweis zu stellen und an öffentliche Fördergelder zu gelangen. In Zeiten, in denen auch die Geistes- und Kulturwissenschaften unter dem Druck der Drittmittelakquise stehen, sollte man diesen Faktor nicht gering veranschlagen.

Wir haben das Leben noch nicht verstanden

Aus ethischer Sicht geht es in der Debatte nicht nur und nicht einmal in erster Linie um Einzelfragen der Risikoforschung, sondern vor allem um die Frage, welche Rückwirkungen die synthetische Biologie auf unser Verständnis von Leben überhaupt hat. Sie leistet jedenfalls einer technomorphen Auffassung von Leben und einem ganz und gar technischen Umgang mit ihm Vorschub, weil die Erfolge der synthetischen Biologie die Annahme zu stützen scheinen, „dass Leben als dynamischer Ordnungszustand der Materie beschrieben werden kann und für die Funktion von Leben keine weiteren, nicht-materiellen Ingredienzen erforderlich sind“ (Rehmann-Sutter).

Die modernen Naturwissenschaften folgen dem von Giambattista Vico (1668-1744) aufgestellten Grundsatz: „verum et factum convertuntur.“ Der neuzeitliche Verstand lässt nur gelten, was er selbst rekonstruieren kann. In Wahrheit haben wir das Leben jedoch noch keineswegs damit verstanden, dass wir einen Organismus technisch manipulieren oder nachbauen können. So scheint sich die moderne Biologie von einer Haltung der Ehrfurcht vor dem Leben immer weiter zu entfernen.

Deshalb ist daran zu erinnern, dass die eigentliche Lebenswissenschaft in der Antike die Ethik war – nämlich die Lehre von der menschlichen Lebensführung, die auch den Umgang mit der Natur einschließt. So stehen wir vor der Herausforderung ein umfassendes Verständnis von Lebenswissenschaft zu entwickeln, das die Kulturen der Geistes- und der Naturwissenschaften neu miteinander ins Gespräch bringt.

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