Tibetische Medizin als Katastrophenhilfe

Der Mensch als ganzheitliches, empfindsames Wesen - so betrachten Tibetische Mediziner ihre Patienten. Forschungen einer Sozialanthropologin zeigen: Solch traditionelle Heilmethoden helfen sogar in der Notfallversorgung.

Tibetische Medizin wird von Bhutan bis China praktiziert, und das seit mehr als einem Jahrtausend. Traditionell tibetische Ärztinnen und Ärzte – sogenannte Amchi – lernen in einer jahrelangen Ausbildung ein umfassendes medizinisches System, vor allem Heilpflanzenkunde mit Kräutern aus dem Himalaya-Hochland und anderen Substanzen - darunter etwa Quecksilber, das durch die komplexen Mischung nicht mehr toxisch wirkt.

Sienna R. Craig hat die Wirkung traditioneller medizinischer Angebote auf Betroffene der verheerenden Erdbeben in Nepal wissenschaftlich ausgewertet. Auf Einladung der Akademie der Wissenschaften hielt sie kürzlich einen Vortrag in Wien: „Slow Medicine in Fast Times: Tibetan Medicine and ‚Alternative Humanitarianism‘ after Nepal’s 2015 Earthquakes“

Katastrophe in Nepal

Als 2015 eine Serie von Erdbeben über mehrere Wochen das südasiatische Nepal erschütterte, bauten nicht nur internationale Hilfsorganisationen Versorgungscamps auf, sondern auch die tibetischen Mediziner. Die US-amerikanische Sozialanthropologin Sienna Craig von der Dartmouth Universität hat die Arbeit der Amchi dort beobachtet.

„Sie haben einfache Wunden mit Salben und Verbandszeug behandelt - und auch Folgeerkrankungen wie Rheuma vom Schlafen auf dem kalten Boden und Verdauungsstörungen durch die schlechte Ernährung", erzählt Craig gegenüber science.ORF.at. "Aber vor allem war es den Amchi auch wichtig, sich um das spirituelle oder seelische Trauma zu kümmern.“

Nepal nach dem Beben: Mann steht zwischen den Trümmern eines Hauses

AP Photo/Bernat Armangue

Sakhu, Nepal, am 6. Mai 2015.

Die Tibetische Medizin hat ein umfassendes Bild von Krankheiten, das nicht auf den Körper beschränkt ist. Ihr spiritueller Anker ist die buddhistische Philosophie. Die Amchi nehmen eine Rolle ein, die Medizin und Seelsorge vereint - sie behandeln Körper und Geist gemeinsam.

Viele sind auch buddhistische Mönche, sagt Craig: "Den Amchi geht es nicht um ‚den Beinbruch in Raum vier‘, sondern um den Menschen, der dort liegt, sein Wesen und seinen sozialen Kontext. Und auch um Ängste und Sorgen, die zu Krankheiten dazugehören.“

Seelsorge und Wundversorgung in einem

Die Amchi würden bei der Behandlung und Nachbehandlung Methoden einsetzen, die an psychologische oder religiöse Praxis erinnern - wie Beratung, Sprechtherapie oder auch Rituale, um der Toten zu gedenken. Zusätzlich verwenden sie eine Vielzahl traditioneller Medikamente, um Schlaflosigkeit, Angst oder Depression zu mindern - nur hätten sie ein ganz anderes Vokabular für mentale Probleme, erklärt Sienna Craig.

Meist gelten diese Zustände als Ausdruck einer tieferliegenden Erkrankung und werden dementsprechend unterschiedlich verstanden und behandelt. Leicht übersetzen lassen sich daher nicht alle Konzepte oder Begriffe.

Nepal nach dem Erdbeben 2015: Versorgungscamp in Kathmandu

AP Photo/Niranjan Shrestha

Versorungscamp in Kathmandu.

Dieses holistische Verständnis bei der Krankheitsbehandlung hätte auch bei der Katastrophenhilfe oder Notfallhilfe einen sinnvollen Platz, sagt Sienna Craig. In ihrer Forschung in Nepal konnte Craig nämlich seither beobachten, dass die Patienten schneller anfingen mit der Katastrophe abzuschließen und ihr Leben und ihre Gemeinschaften wieder aufzubauen. Es sei schwierig, das zu quantifizieren, gesteht Craig zu.

In den zahlreichen Interviews, die sie dort geführt hat, zeige sich deutlich, dass Patienten der Amchi eher nach vorne schauen und nicht an der oft auch persönlichen Katastrophe hängengeblieben sind. Eine Katastrophe war das Erbeben zweifelsohne: Mehr als 8.000 Menschen kamen dabei ums Leben und hunderttausende verloren ihre Häuser.

Weniger Burnout

Craig glaubt, dass das auch damit zu tun hat, dass die Amchi aus demselben Kulturkreis stammen und dadurch ansprechendere Hilfe anbieten konnten. Einen Unterschied gemacht habe vor allem die Bereitschaft der Amchi, neben der Wundversorgung genauso mit dem Leid der Menschen umzugehen. Das gilt auch für die Amchi selbst.

Nach dem Erdbeben: Frau aus Nepal hlät ihr Kind in Armen

ASSOCIATED PRESS

Fünf Tage nach dem Beben: Lubu, 57 Kilometer südöstlich von Kathmandu.

Denn Katastrophenhelferinnen und -helfer entwickeln oft ein Burnout-Syndrom, eine durch den Stress der Situation hervorgerufene emotionale Abstumpfung und Erschöpfung, die zu Depressionen und anderen geistigen und körperlichen Problemen führen kann. Die Amchi, die genauso vor Ort das Chaos und die Zerstörung miterlebt haben, kennen dieses Problem allerdings nicht, weil sie in buddhistischer Tradtition davon ausgehen, dass es ihnen selbst gut tut, das Leid anderer zu mindern.

Neuer Ansatz auch für Klinikalltag?

Craig meint, dass solche Beobachtungen ein Umdenken in der Ausbildung von Katastrophenhelfern anstoßen sollte, ebenso im Klinikalltag. Natürlich lassen sich lassen sich Konzepte aus anderen Kulturkreisen und medizinischen Tradition nicht einfach umlegen. Craig beobachtet jedenfalls, dass alternative Heilsysteme – wie Traditionelle Chinesische Medizin, Ayurveda und immer mehr auch Tibetische Medizin - wieder das Interesse der westlichen Forschung wecken. Akupunktur wird immer beliebter: Es gibt sogar eine humanitäre Vereinigung, die Akupunktur in Krisengebieten anbietet. Die Universität von Virginia beispielsweise kooperiert in ihrer Krankenschwesternausbildung mit einem Zentrum für Tibetische Medizin

Auch psychosozialen Faktoren werde in der Praxis mehr Beachtung geschenkt, meint Craig. „Es hat ein paar Jahrhunderte gedauert, aber die westliche Medizin scheint jetzt wieder einen Bogen zu einer nicht nur physisch ausgerichteten Heilkunst zu spannen. Nach der Entdeckung von Krankheitskeimen war das selbst wie ein Wunder oder Magie. So, als könnte man auf diese Weise alles verstehen und heilen- Der Fokus galt dann einzig physischen Abläufen.“

Die Tibetische Medizin kann die westliche Notfallmedizin nicht ersetzten, gerade bei lebensbedrohlichen Verletzungen. Aber den Menschen als ganzheitliches Wesen zu verstehen, so Craig, sei eben auch in akuten Fällen heilsam, wie die Forschung in Nepal gezeigt habe. Nämlich sowohl für die, die Hilfe brauchen, wie auch die, die sie geben.

Isabella Ferenci, Ö1-Wissenschaft

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