Die Stimme sagt mehr als das Gesicht

Will man erkennen, ob jemand glücklich, traurig oder zornig ist, sollte man ihm besser zuhören und ihn nicht anschauen. Wie Experimente zeigen, verrät die Stimme nämlich die wahren Gefühle, Gesichtsausdrücke können trügerisch sein.

Um unser Gegenüber zu verstehen und ihm auch angemessen begegnen zu können, sollten wir erkennen, wie es ihm geht: Ist es traurig oder nur müde? Oder doch eher gelangweilt? Das ist nicht immer ganz einfach. Obwohl wir ein Leben lang üben, können wir uns ziemlich täuschen, wenn wir uns nur auf den äußeren Anschein verlassen.

Die Studie

„Voice-Only Communication Enhances Empathic Accuracy“, Preprint, American Psychologist, 10.10.2017

Die Gesichtsausdrücke für so grundlegende Gefühle wie Glück, Zorn, Trauer, Hass, Freude und Angst sind früheren Theorien zufolge zwar recht eindeutig und daher für alle gut erkennbar - auch wenn es wohl doch mehr kulturelle Unterschiede gibt, als ursprünglich angenommen wurde. Menschen können sich jedoch recht gut verstellen, wenn es um Mimik oder auch Gestik geht, schreibt Michael W. Kraus von der Yale University in seiner soeben erschienenen Studie.

Die Stimme lügt nicht

Das gelte aber nicht für die Stimme. Wie der Sozialpsychologe ausführt, gebe es beim Sprechen einerseits den Inhalt - also das, was gesagt wird - und anderseits die Art, wie etwas gesagt wird: Ist die Stimme ruhig und gelassen, brüchig oder kurzatmig? All die nicht sprachlichen Elemente wie Lautstärke, Tonhöhe, Tempo etc. zeigen laut Kraus sehr gut, wie es dem Sprecher geht.

Im echten Leben kommen natürlich alle Signale gleichzeitig: Man sieht das Gegenüber, seine Körperhaltung, seinen Blick und man hört, was es sagt und wie es das tut. Wenn es darum geht, die Gefühle zu erkennen, sind das womöglich zu viele Informationen auf zu vielen Kanälen, schreibt Kraus. Das sei dann ähnlich wie beim Multitasking, das bekanntermaßen die Genauigkeit und das Tempo verringert.

Die Hypothese des Psychologen: Am besten ließen sich die Gefühle des Gegenübers lesen, wenn man ausschließlich zuhören würde - am besten mit geschlossenen Augen. Überprüft hat er das nun mit fünf Experimenten.

Treffsicher durch Zuhören

Beim ersten durften etwa 300 Probandinnen und Probanden zwei Freundinnen beobachten, die sich minutenlang gegenseitig aufziehen. Das sei ein gutes Setting, da es sehr viele unterschiedliche Gefühle auslösen kann. 23 verschiedene Begriffe wie Zorn, Angst, Schuld, Hoffnung und Stolz standen für die Bewertung der Gefühlslage zur Auswahl. Ein Teil der Versuchsteilnehmer konnte nur akustisch an dem Geplänkel teilnehmen, ein weiterer nur optisch, ein dritter sowohl als auch. Beim Erkennen der Gefühle erzielte die akustische Gruppe tatsächlich die größte Übereinstimmung mit den Freundinnen.

Im zweiten Experiment stand die direkte Begegnung mit einem Fremden im Mittelpunkt. Die mehr als 250 Teilnehmer mussten paarweise über ihre Vorlieben in Film und Fernsehen bzw. bei Essen und Trinken diskutieren - ein Teil in einem hellen, der andere in einem völlig abgedunkelten Raum. Im Dunklen wurden die Gefühle des jeweils anderen tatsächlich genauer erkannt. Beim dritten Experiment wurden dieselben Gespräche von dritten gehört bzw. gesehen. Auch hier waren die reinen Zuhörer treffsicherer.

Zuhören zahlt sich aus

In der vierten Versuchsreihe wurde wieder paarweise kommuniziert, dieses Mal über eine Konferenzsoftware. Zusätzlich sollten die Teilnehmer angeben, anhand welcher akustischen bzw. optischen Merkmale sie die Gefühlslage des anderen beurteilten. Diese Zusatzauswertung ergab, dass die Aufmerksamkeit beim reinen Zuhören besonders stark auf die nicht sprachlichen Sprechanteile gerichtet war.

Dass diese paralinguistischen Merkmale eine Hauptrolle spielen, bestätigte das letzte Experiment. Dabei wurde die menschliche Stimme mit einer computergenerierten verglichen, die zwar denselben Inhalt wiedergab, aber völlig neutral sprach. Daraus konnten die Teilnehmer tatsächlich keinerlei Rückschlüsse auf Gefühle ziehen. Laut Kraus macht das deutlich, dass es mehr um das Wie als um das Was geht, wenn Zuhörer die Gefühle des Sprechers erkennen.

Insgesamt zeigen die Experimente, dass stimmliche Merkmale Emotionen sehr viel genauer spiegeln als Gestik und Mimik, schreibt Kraus, umso mehr als es im Experiment ja keine Motivation gibt, sich zu verstellen - wie das in der Realität mitunter der Fall sein könnte. Zuhören zahle sich jedenfalls aus. „Wirklich darauf zu achten, was Menschen sagen und vor allem, wie sie es sagen, kann helfen, sie besser zu verstehen.“

Eva Obermüller, science.ORF.at

Mehr zum Thema