„Die Kopftransplantation ist erst der Anfang“

Der Mediziner Sergio Canavero ist bekannt dafür, seit Jahren ein Ziel zu verfolgen: die erste Kopftransplantation. Das soll nun spätestens im kommenden Frühjahr geschehen, in China. In seinem neuen Buch macht er klar, dass dies für ihn erst der Anfang ist.

Würde man einen typischen Hollywood Science-Fiction Film drehen, könnte man die Rolle des visionären Wissenschaftlers, der mit den Regeln des Establishments auf Kriegsfuß steht, direkt an Sergio Canavero vergeben. Kahlköpfig mit einem dünnen Henriquatre-Bart im gut gealterten, kantigen Gesicht und die Augen mit einem gewissen leidenschaftlichen Glitzern - sein Englisch mit leichtem Akzent passt auch gut dazu. Darin erklärt er mit energischen Gesten, die ihn größer wirken lassen als er ist, was die Zukunft bringt - wenn nur die Gesellschaft und die akademische Welt akzeptierte, was möglich ist oder ohnehin geschehen wird.

Neuer Kopf auf neuem Körper

Beispiel eins ist sein eigenes umstrittenes Großprojekt: die erste Kopftransplantation am Menschen - oder Körpertransplantation, je nach Sichtweise. Im Prinzip jedenfalls ein umfassendes Organtransplantat, von dem Canavero meint, nach Gesetzeslage sollte das in den meisten Ländern möglich sein. Offen dafür und wissenschaftlich wie finanziell fördernd war aber nur China, während ihm aus großen Teilen der westlichen Wissenschaftswelt Ablehnung entgegenschlug.

Sergio Canavero

Piero Martinello

Darum wird statt des jungen Russen, der Muskelschwund hat und bisher als Empfänger eines Spenderkörpers bereitstand, ein Chinese der erste Patient werden - und auch der erste Spender. Und zwar mit vollem Einverständnis der Beteiligten bzw. ihrer Familien, sagt Canavero, “Schon aus einem einfachen Grund, weil die Chinesen wissen, dass darüber überall auf der Welt berichtet werden wird und dass beide - Spender und Empfänger in die Geschichtsbücher eingehen.“

Ö1-Sendunghinweis

Dem Thema widmet sich auch ein Beitrag in Wissen aktuell am 17.11. um 13:55

Denn die Chinesen, so erklärt der Turiner Arzt weiter, seien klüger als wir im Westen. Das kommende Jahrhundert werde daher das chinesische Jahrhundert, ist er überzeugt - so wie das Land jetzt aktiv an der Vormachtstellung in Wissenschaft und Technik arbeitet. Darum seien sie auch pragmatisch genug, auf Ideen wie seine offen einzusteigen und zuzuhören, sagt Canavero, noch einmal mit einem Seitenhieb auf die breitere akademische Welt. Und diesen Meilenstein der Wissenschaft will man eben möglich machen und sich ohne schlechte PR an die Fahnen heften.

Die größte Herausforderung ist dabei vor allem das Durchtrennen und Wiederverbinden der Nervenstränge des Rückenmarks. Wichtig sind dabei vor allen der „Nervenkleber“ Polyethylenglycol (PEG), der noch einmal von einem Team rund um Canaveros Mitstreiter Xiaoping Ren verbessert wurde, und eine neue Nanoklinge, die besonders saubere und winkelgenaue Schnitte ermöglicht. Die Nerven können dann genau aufeinandergesetzt werden.

Schöne neue Welt

Canavero ist zuversichtlich, dass die Operation gelingen wird - bald würden noch vier wissenschaftliche Artikel publiziert, die viele der Forschungsfortschritte rund um das Projekt enthalten. Und damit meint er nicht nur den proof-of-concept, sondern auch die Verbesserung der Lebensqualität der Patienten. Der Patient wird mit Hilfe virtueller Realität auf die Wahrnehmung eines neuen, ungeschädigten Körpers vorberietet, nach der Operation wochenlang der Abheilung wegen im künstlichen Koma gehalten, und dann eben schrittweise bei der Adaptierung unterstützt. Gehen wird er können, meint Canavero, laufen vielleicht nicht.

Sergio Canavero in einem Raum mit anatomischen Exponaten und Tafel

Piero Martinello

Canavero ist sich dabei aber auch der Risiken und mancher offener Fragen bewusst, wie der Patient sich an den neuen Körper anpassen wird. Genauso bestreitet er nicht die vielen ethischen Fragen rund um das Projekt. Der herauskommende Mensch ist zum Beispiel eine Chimäre - also ein Mischwesen aus zwei Organismen; die DNA, wenn er sich fortpflanzte, wäre die des früheren Kopfes. Dazu kämen noch ganz andere Fragen, würde die Kopftransplantation Standard – könnten ältere Menschen junge Körper bekommen? Ist der andere Körperspender noch am Leben oder tot, ändert sich der Charakter mit einem anderen Körper? Die Frage des Bewusstseins oder wo die „Seele“ sitzt, interessiert auch Canavero, und er meint auch dabei würde dieses Experiment interessante Anhaltspunkte liefern.

Aber Canavero lehnt sich zurück und bringt die Hände mit offenen Handflächen hoch - „Ich bin nur ein Handwerker, nicht anders als ein Mechaniker der Autos repariert, der auch nicht anders arbeitet, ob er einen Cinquecento oder einen Ferrari richtet.“ Was heißen soll, er hat keine Antworten, außer eben für sich selbst. Aber er ist sich gewiss: Wir können jedes Problem lösen, nur müssen wir uns eben den Fragen stellen, anstatt so zu tun als gäbe es sie nicht. Und das gelte für die gesamte kommende Medizin, sagt Canavero. Die Kopftransplantation ist wie ein Symbol, das uns die gesellschaftlichen und menschlichen Fragen stellt, die in den nächsten drei Jahrzehnten geballt auf uns zukommen werden.

Medicus Magnus

In seinem neuen Buch „Medicus Magnus – Die Revolution der Medizin und wie wir sie für uns nützen“ sammelt der Arzt die neuen Entwicklungen in der Biotechnologie und der Medizin, die heute nicht nur schon absehbar sind, sondern manchmal teilweise bzw. theoretisch einsatzbereit. Das Buch ist eine Art Tour de Force durch die Zukunftsmedizin: Canavero stellt überblicksartig mehrere neue Felder dar und bewertet, wie wahrscheinlich ihre Erfolgschancen sind und auch wie bald. Da geht es um Digitalisierung und Daten in der Medizin genauso wie um die Computer-Gehirn Schnittstelle, Stammzellenforschung, Genmanipulation, künstlich gezüchtete Organe oder um ein neues Verständnis von Altern als Krankheit - mit Medikamenten, die die Symptome und den Krankheitsverlauf abfedern.

Buchcover Canavero

Edition a

Am meisten begeistert Sergio Canavero aber die Arbeit, die seine eigene überholt machen dürfte: Die Forschung an bioelektrischen Signaturen könnte es möglich machen, dass Gliedmaßen und Organe, vielleicht auch der ganzen Körper, angeregt werden können, von selbst nachzuwachsen - ähnlich wie das Eidechsen mit ihrem abgeworfenen Schwanz machen oder - noch relevanter – es junge, menschliche Kinder können , so erzählt Canvero, wenn ihnen zum Beispiel ein Stück vom Finger abgetrennt wird (und man die Wunde nicht zunäht).

Was ist ein Mensch?

In seiner Schlussfolgerung spricht Canavero von einem großen Bruch in der Menschheitsgeschichte, der im 21. Jahrhundert auf uns zukommt. Dass wir nämlich über unsere natürlichen Begrenzungen und die meisten Krankheiten, die heute unseren Tod herbeiführen, hinauswachsen werden. Und es wäre Zeit uns zu überlegen, was das für die Gesellschaft bedeutet, sagt Canavero. Er selbst bietet zwei Szenarien Zum Aussuchen an: Entweder wir bekommen (großteils) keine Kinder mehr, weil wir nicht schnell genug sterben, oder wir verabschieden uns freiwillig mit 90 Jahren aus einem gesunden Leben.

Eventuell vergessen hat der Chirurg Sergio Canavero dabei, dass es noch andere Zukunftsfelder gibt, die schwindelerregend die Geschwindigkeit der Menschheitsgeschichte steigern, und dafür sorgen, dass das Ende dieses Jahrhunderts gesellschaftlich deutlich anders aussehen wird als sein Ausgangspunkt.

Zum einen bietet der Weltraum noch viel Platz für Menschen - egal wie lange sie dann leben. Eine Lebensdauer von 150 Jahren oder mehr könnte manche Reisen in die unendlichen Weiten erst möglich machen. Zum anderen gibt es da auch Waffen mit unglaublicher Zerstörungskraft. Es ist also nicht verfrüht, über kommende Revolutionen nachzudenken, sie menschlich einzuschätzen anstatt einfach mitzulaufen.

Die Gesellschaft der Zukunft wird sich auf alles einstellen - so wie einst die erste Herztransplantation von Christiaan Barnard noch ähnlich schockiert hat wie heute Canaveros Kopftransplantation, aber heute kaum mehr jemand an deren Einsatz rüttelt. Was die Menschen in hundert Jahren für normal halten, können wir heute noch mitbestimmen. Und das nicht vor allem durch den Fortschritt der Technik, sondern unsere kulturellen Diskussionen rund um das Menschsein – Dystopie und Utopie sind nur um Haaresbreite voneinander getrennt, warnt auch Sergio Canavero.

Isabella Ferenci, Ö1-Wissenschaft

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