Streifzüge durch die Geheimnisse der Nacht

Für Christen ist die Nacht der Ort von Gottesgeburt und Auferstehung. Sie hat aber auch Philosophen, Dichter und Maler angezogen – als Terrain des Schlafes, der Träume und der Überschreitung von Grenzen.

Der Philosoph Martin Thurner von der Universität München hat vor Kurzem bei einem Seminar an der Schwabenakademie Irsee in Bayern Ergebnisse dieser nächtlichen Expeditionen präsentiert.

Ort des Visionären

Die Nacht fungiert als Gegenwelt zum rational strukturierten Alltag, zur Ordnung der Vernunft. Sie stellt im Sinne des französischen Philosophen Michel Foucault (1926-1984) eine Heterotopie dar - eine Welt des ganz Anderen, wie sie in anarchischen Träumen oder Alpträumen zum Ausdruck kommt.

Der Schweizer Maler Johann Heinrich Füssli (1741-1825) schilderte in seinem Werk diese Welt der Träume und Visionen, die sich in der Sphäre des Grauens und des Dämonischen ereignen. Er bevölkerte das nächtliche Reich mit Dämonen und Elfen und ließ die Träumenden Lust oder Schrecken erleben. Füsslis Traumbilder basieren meist auf literarischen Motiven, in denen das Abgründige, Irrationale zum Ausdruck kam, das die Aufklärung zu bannen suchte.

Johann Heinrich Füssli (1741–1825), Der Nachtmahr, 1790/91, Frankfurter Goethe-Haus

Public Domain / The Yorck Project

Johann Heinrich Füssli: Der Nachtmahr, 1790/91, Frankfurter Goethe-Haus

Gegenwelt der Aufklärung

Seit Platon plädierten Philosophen für das Licht der Vernunft. Im „Höhlengleichnis“ ging es darum, den in der Höhle angeketteten Menschen, der die Welt nur schematisch wahrnahm, eine Möglichkeit aufzuzeigen, zur Welt des Lichts, der Vernunft vorzudringen.

Die Philosophen der Aufklärung wie Immanuel Kant und Voltaire bekämpften das Dunkle, Obskure, das sie mit Religion und Aberglauben verbanden. Im Gespräch mit science.ORF.at äußerte Thurner den Verdacht, dass die Propagandisten der Helligkeit entweder über kein Instrumentarium verfügten, die Dimension des Nächtlichen zu erfassen, oder Angst hatten, sich im labyrinthischen Dunkel zu verirren.

Träume, Alkohol und Drogen

In der Sphäre des Nächtlichen sind zahlreiche Abweichungen von der geordneten Welt der Rationalität möglich. Schon im Traum wird die durch Raum und Zeit geordnete Welt gehörig durcheinander gewirbelt. Schon längst Verstorbene nehmen Kontakt mit dem Traum-Ich auf, verflossene Liebschaften erneuern sich, Reisen durch phantastische Landschaften übertreffen jeden medialen Reisebericht.

Das Ich ist nicht länger Herr im eigenen Haus; es verliert sich in den Dunkelkammern des Unbewussten. Ähnliches ereignet sich verstärkt im Alkohol- oder Drogenrausch. Die personale Identität zerbricht; im Taumel der Transgression kommt es zu einer Überflutung von intensivsten Erlebniszuständen.

Literaturhinweise:

Elisabeth Bronfen: Tiefer als der Tag gedacht. Eine Kulturgeschichte der Nacht, Carl Hanser Verlag

Brigitte Borchhardt-Birbaumer: Imago noctis – die Nacht in der Kunst des Abendlandes vom alten Orient bis ins Zeitalter des Barock, Böhlau Verlag

Heinz-Gerhard Friese: Die Ästhetik der Nacht. Eine Kulturgeschichte, Rowohlt Verlag

Der französische Schriftsteller Henri Michaux (1899-1984) hat das nach der Einnahme einer Dosis Meskalin in seinem Buch „Turbulenz im Unendlichen“ so beschrieben:

„Aus der Tiefe eines immer wieder erneuerten Ichweißnichtwas rücken schwarze Heerhaufen gegen mich vor und lassen vom inneren Gesichtsfeld nur einen ganz kleinen Spalt offen, der mich vor völliger Dunkelheit bewahrt. Jedoch über das bereits verbreitete Schwarz legt sich manchmal ein neues Schwarz, das sich mit höchster Geschwindigkeit daran macht, den Spalt zu erobern.“

Mystisches Erleben

Eine weitere Facette des nächtlichen Erlebnisspektrums beschreibt der spanische Karmelitermönch Johannes vom Kreuz (1542-1591). Es handelt sich um das mystische Erleben, um das Verschmelzen mit dem Absoluten, das erst erfolgt, wenn das Tagesbewusstsein der Normalität verlassen wird. In dem Gedicht „Die dunkle Nacht der Seele“ geht es um die mystische Vereinigung der Seele mit Gott.

Von Sehnsucht getrieben verlässt das poetische Ich den geschützten Bereich seines eigenen Hauses und begibt sich in die ungeschützte Dunkelheit der Nacht, „ohne anderes Licht und Geleit / außer dem, das in meinem Herzen brannte“.

Hier erfolgt die zärtliche Vereinigung mit dem Absoluten, die hymnisch besungen wird: „Da blieb ich und vergaß mich / neigte das Gesicht auf den Geliebten / alles hörte auf / ich ließ mich fallen / ließ ab von meiner Sorge / unter weißen Lilien vergessen.“

Perseidenschauer am Nachthimmel von West Virginia im August 2016

NASA/Bill Ingalls

Sternbild des Perseus am Nachthimmel von West Virginia im August 2016

Novalis’ Hymnen an Nacht und Geliebte

„Abwärts wend’ ich mich, zu der heiligen, unaussprechlichen, geheimnisvollen Nacht.“ Mit diesen Worten beginnt eine andere Expedition in die Nacht, die der romantische Dichter Novalis unternahm. Dieser Text - mit dem Titel „Hymnen an die Nacht“ - beginnt paradoxerweise mit einem Preislied auf das „allerfreuliche Licht, mit seinen Farben, seinen Strahlen und Wogen“.

Es ist eine Welt, in der die Kette des Seienden - von den Steinen über die Pflanzen und Tiere bis zu den Menschen - eine harmonische Einheit bildet. Das poetische Ich wird jedoch durch den Tod seiner Geliebten aus dieser kosmischen Harmonie gerissen. Den biografischen Hintergrund bildet der frühe Tod von Novalis’ Geliebter Sophie von Kühn, die im Alter von 15 Jahren verstarb.

Der Trauernde verfällt an ihrem Grab in eine tiefe Depression - „einsam, wie noch kein Einsamer war, kraftlos, nur ein Gedanken des Elends noch“. Zunächst wird er von dem Wunsch getrieben, der Geliebten in den Tod zu folgen. Das Eintauchen in die Nacht bewirkt jedoch einen Sinneswandel.

Die Nacht - „Verkünderin heiliger Welten“

Das trauernde Ich verspürt eine Ahnung, „einen Dämmerungsschauer“ vom Bereich des Transzendenten, der die Begrenzungen der personalen Identität sprengt. Die nächtliche Ruhe fungiert als „die Verkünderin heiliger Welten“.

In der Nacht gelten nicht länger die Regeln der Alltagswelt; sie ermöglicht eine Begegnung mit dem Unendlichen und löst eine kaum zu beschreibende Begeisterung aus. Novalis verbindet - so Thurner - das Nachtmotiv mit theologischen Konnotationen und „beschwört den Urgrund des Seins, jenen Bereich, der die Welt des Tageslichts kindisch erscheinen lässt“.

Nächtlicher Schaffensrausch des Dichters

Mit einem Aufbruch in die Nacht beginnt auch Friedrich Hölderlins Elegie „Brot und Wein“. Hier ist die Nacht das Synonym für Ruhe und Muße. Das geschäftige Treiben der Stadt mündet in ein Innehalten, in ein Nachdenken, das es ermöglicht, sich allmählich in Sphären zu begeben, die in der betriebsamen Alltagswelt keinen Platz haben.

Die Nacht - „die Fremdlingin unter den Menschen“ - ist der Schauplatz von Grenzüberschreitungen, wie sie im produktiven Schaffensrausch der Dichter erfolgen. Er ist eng mit der Mania, dem Wahnsinn verbunden, der als maximale Intensität erlebt wird und nicht vermittelbar ist. Die vertraute Welt, in der sich die Menschen so sicher und behaglich eingerichtet haben, besteht nicht mehr.

In der Transgression des Dichters ist es nicht möglich, die Faktizität des Alltagslebens zu berücksichtigen. In seinem Gedicht pries Hölderlin die beglückend-ozeanische Dimension der ästhetischen Produktivität, die dem Normalbürger Anlass zum Spott gibt:

„Göttliches Feuer auch treibet, bei Tag und bei Nacht / Aufzubrechen. So komm! dass wir das Offene schauen / Dass ein Eigenes wir suchen, so weit es auch ist/ (…) / und spotten des Spotts mag gern frohlockender Wahnsinn / Wenn er in heiliger Nacht plötzlich die Sänger ergreift.“

Nikolaus Halmer, Ö1-Wissenschaft

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