Viren des Geistes

Neurobiologen haben ein Protein entdeckt, das für Lernen, Gedächtnis und geistige Arbeit unverzichtbar ist. Nun stellt sich heraus: Das Protein kam durch eine Infektion ins Gehirn. Es stammt von Viren.

Bereits vor 15 Jahren begann Jason Shepherd mit Arc zu experimentieren. Zunächst schien es ein Protein wie jedes andere zu sein. „Wenn ich ehrlich bin, verlor ich nach einiger Zeit das Interesse“, erzählt der Biologe von der University of Utah in Salt Lake City. Das sollte sich ändern, als er der 3-D-Struktur des Proteins ansichtig wurde.

Arc findet sich nämlich spontan mit seinesgleichen zusammen und bildet größere Strukturen - runde Kapseln, die an die Proteinhülle des Aids-Erregers HIV erinnern. „Ab diesem Zeitpunkt wusste ich: Wir sind einer interessanten Sache auf der Spur“, sagt Shepherd im Gespräch mit science.ORF.at.

Infektion des Gehirns

Frühere Studien hatten bereits gezeigt, dass Arc im Gehirn von Mäusen eine wichtige Rolle spielt. Fehlt es im Erbgut, sind die betroffenen Mäuse kaum fähig, neue Dinge zu erlernen. Ihr Gehirn büßt an Plastizität ein. Oder, wie es Shepherd ausdrückt: Im Leben gibt es ein Zeitfenster, in dem sich das Gehirn wie ein Schwamm verhält, Wissen und Fähigkeiten gleichsam aufsaugt. Ohne Arc bleibt das Fenster geschlossen.

Wie Shepherd nun im Fachblatt „Cell“ berichtet, lag er mit seiner ursprünglichen Vermutung durchaus richtig. Arc hat tatsächlich alle Eigenschaften eines Virusproteins, es packt sein eigenes Erbgut, RNA, in eine Kapsel und transportiert diese von einer Nervenzelle zur nächsten, ganz so, als würde es die Zellen im Gehirn infizieren.

Nur dass diese „Infektion“ eben in diesem Fall von Vorteil ist, sie untersteht der Regulierung synaptischer Verbindungen - jener Kontaktstellen zwischen Nervenzellen, wo sich das Erlernte dem Gehirn gleichsam einschreibt.

Die Geschichte wiederholt sich

Laut Shepherds Berechnungen begann die Geschichte von Arc vor 350 bis 450 Millionen Jahren. Zu dieser Zeit sprang das entsprechende Gen, vermutlich Teil eines damals existierenden Virus, ins Erbgut eines Wirbeltiers. Dort wurde es vom Fremdkörper schrittweise zu einem der Hauptakteure im großen Gefüge von Lernen, Kognition und Gedächtnis.

Proteinkapseln in Nervenzellen

Chris Manfre

Proteinkapseln in Nervenzellen: Arc sieht aus wie ein Virus und verhält sich wie ein Virus

Ein historischer Glücksfall? Das ja, aber kein Einzelfall: In der gleichen Ausgabe von „Cell“ berichten nämlich Forscher von der University of Massachusetts von der Fliegen-Variante des Proteins. Auch dieses übernimmt Kommunikationsagenden im Nervensystem der Fliegen, etwa zwischen Neuronen und Muskelzellen.

Sequenzvergleiche zeigen allerdings: Das Fliegen-Protein ist 150 Millionen Jahre jünger als jenes der Mäuse. Der folgenreiche Sprung ins Wirtserbgut muss sich im Lauf der Naturgeschichte also zweimal ereignet haben, möglicherweise auch öfter. Wie oft, können die Forscher noch nicht sagen.

Domestizierte Erreger

Dass sich Viren in unserem Erbgut festgesetzt haben, ist an sich nichts Besonderes. Forscher schätzen, dass rund acht Prozent der menschlichen DNA solchen Ursprungs sind. Erstaunlich ist allerdings, dass Arc seine infektiöse Natur beibehalten hat und gleichsam gezähmt wurde. Das zeige, wie opportunistisch die Natur agiert, sagt Shepherd. „Wenn ein Mechanismus für Zellen nützlich ist, dann verwenden sie ihn auch.“

Shepherds Entdeckung könnte man auch als Reminiszenz an einen Essay von Richard Dawkins lesen. Der britische Biologe schlug in frühen 90er Jahren vor, Ideen als „Viren des Geistes“ zu betrachten, weil sie von Gehirn zu Gehirn springen, sich im Gedächtnis festsetzen - und so ihre eigene Evolution vorantreiben. Das war natürlich metaphorisch gemeint. Nun stellt sich heraus, dass Gehirne gänzlich unmetaphorische, nämlich echte Viren beherbergen - und diese domestizierten Erreger tatsächlich in den Dienst der Ideen stellen. „Das“, sagt Shepherd, „würde Dawkins wohl überraschen.“

Robert Czepel, science.ORF.at

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