Wer war der Homo academicus habsburgicus?

Die Habsburgermonarchie hat die zentraleuropäische Wissenschaft entscheidend geprägt. Klagen über die mangelnde Qualität der Universitäten gab es schon damals, schreibt Jan Surman in einem Gastbeitrag.

Der Begriff Homo academicus stammt vom französischen Soziologen Pierre Bourdieu. Er verwendete ihn, um die französischen akademischen Intellektuellen und deren Erfahrungsräume zu klassifizieren. Das Zusammenspiel zwischen dem Habitus, Formungsprinzip des individuellen Verhaltens, und dem sozialen Raum Universität, bewirkte seiner Einschätzung nach die Ausformung unterschiedlicher Forscherpersönlichkeiten, die es zu klassifizieren galt. Schlussendlich wollte er damit die Möglichkeiten von Individualität und Originalität innerhalb eines sich reproduzierendem akademischen Systems aufzeigen.

Jan Surman

IFK

Jan Surman ist Historiker und forscht zu Wissenschaften in multikulturellen Staaten. Derzeit ist er IFK_Research Fellow.

Gab es in der Habsburgermonarchie einen solchen intellektuellen Habitus sowie ein akademisches System, das das Imperium umschloss? Es handelte sich dabei immerhin um einen Raum, der von Innsbruck nach Czernowitz reichte, und dessen Bevölkerung in mehreren Sprachen kommunizierte. Zudem blickten und bewegten sich einige Forscher außerhalb des Imperiums – die Wiener orientierten sich zunehmend nach Berlin, die Krakauer nach Warschau.

Die Multikulti-Universität

Nun aber war die Sprachenvielfalt selbst ein Ergebnis historischer Prozesse. Bis tief in das 19. Jahrhundert war Deutsch, wie auch Französisch, die Sprache der Eliten. Durch das Bildungssystem bedingt, sprach die Mehrzahl der slawischen Gelehrten Deutsch – die Kenntnis der slawischen Sprachen war bei den deutschsprachigen Gelehrten dagegen beschränkt. Die Wissenschaftler entstammten meistens dem Bürgertum, was ein spezifisches Sozialisationsmuster ergab. Und schließlich führten die Stipendien die meisten habsburgischen Forscher nach Wien – ein imperiales Erasmus sozusagen.

Das Imperium schuf einen Erfahrungsraum, in der Multikulturalität gelebt wurde. Die Monarchie war ein Zirkulationsraum von Ideen, Personen und Vorstellungen. Die meisten Gelehrten lobten daher das Kaisertum und schöpften aus den Ressourcen des Staates. Als die Monarchie zunehmend nach Sprachen segregiert wurde, wurden aber auch die Universitäten von dieser Einteilung erfasst. Doch blieb das internationale Ethos der Wissenschaften auch den national gesinnten Intellektuellen von Bedeutung. Auch wenn sie dem Imperium gegenüber skeptisch eingestellt waren, wollten sie es nicht verlieren und in Ghettos der Einsprachigkeit eingefangen werden.

Die Universitätswelt der Habsburger

Das uniforme habsburgische Universitätssystem hat auch eine lange Geschichte. Die Professoren waren zunächst Beamte und Lehrer, ein Forschungsauftrag kam erst im Laufe des späteren 19. Jahrhunderts hinzu. Das hatte Auswirkungen: Lange Zeit waren Juden von Professuren ausgeschlossen; die Sittlichkeit der Professoren wurde genau überwacht, Freiheit der Gedanken war eher unwillkommen. Erst die Reformen von Leo Thun-Hohenstein führten im Jahr 1849 eine Autonomie ein, die aber erst in die Praxis umgesetzt wurde, nachdem der Minister neue Professuren besetzte. Thun-Hohenstein berief meistens konservative Katholiken. Und sie lebten ihre Autonomie dann aus.

Dass die konservativ-katholischen Professoren die Macht innehatten, hing den Universitäten lange nach. Über die Auseinandersetzungen der Habsburger Universitäten mit der Modernität können Bände geschrieben werden. Dass die Nationalismen aller Art unter diesen Voraussetzungen einen fruchtbaren Nährboden fanden, ist auch das Ergebnis der konservativen Grundstimmung. Dass die Universität ein Männerverein war, der widerwillig Frauen zuließ, muss an dieser Stelle nicht erläutert werden.

Veranstaltungshinweis

Am 22.1. hält Jan Surman einen Vortrag am IFK Internationales Forschungszentrum Kulturwissenschaften | Kunstuniversität Linz: „Homo academicus austriacus? Habsburgische Wissenschaft als plurikultureller Raum“. Ort: IFK, Reichsratsstraße 17, 1010 Wien. Zeit: 18.15 Uhr

Konservativ, katholisch, männlich und zunehmend nationalistisch und antisemitisch. So war die Situation der Universitäten und deren Professoren um die Jahrhundertwende, ungeachtet ob es sich um Graz oder Lemberg handelte. Selbstverständlich waren dann schon jüdische Gelehrte zugelassen, wobei sie vornehmlich in Prag und Wien lehrten und unter systematischer Benachteiligung litten. Sie bildeten den Grundstein der Privatdozenten, des Proletariats der Denker (Der Spiegel, 25.2.2005).

Dass sich manche liberale und der Moderne gegenüber offene Forscher unter den Professoren fanden, war dem rasanten Anstieg der Studentenzahlen ab den 1870er Jahren zu verdanken, sodass rasch neue Professuren geschaffen werden mussten. Dass gerade an solche Forscher erinnert wird, überrascht wenig, wird aber der historischen Komplexität nur wenig gerecht. Vielsagend ist auch, dass das Ministerium häufig eingriff, um fragwürdige Berufungen zu unterminieren und die Balance an den Universitäten zu garantieren. Autonomie ist ein zweischneidiges Schwert und oft waren die Minister viel liberaler als die Professoren oder Rektoren.

Homo academicus austriacus

Zurück zu Bourdieu. Und ein Sprung nach vorne. Lässt sich mit dem Homo academicus habsburgicus der Homo academicus austriacus erklären? Neuere Forschungen zeigen, dass sich die konservative Grundeinstellung der Professorenschaft über alle Brüche hindurch halten konnte. Antisemitismus und Katholizismus hielten sich lange, bis in die Nachkriegszeit. Multikulturelle Erfahrung fiel mit dem Raum weg – Deutschland und die Schweiz dominieren zumeist das, was als Ausland verstanden wird. Dass der „Osten“ (und das schließt auch das westlich von Wien gelegene Prag ein) als Forschungsstandort nicht besonders anerkannt wird, hat auch eine lange habsburgische Tradition.

Welchen Einfluss diese Einstellung auf die intellektuelle Produktion hat, muss hier eine offene Frage bleiben. Ob Österreich ein Wissenschaftsstandort ist, oder ein wissenschaftliches Entwicklungsland, ist eine offene Frage. Vielsagend ist, dass die meisten Nobelpreisträger die dem Lande zugeschrieben werden, aus diesem vertrieben wurden, oder es freiwillig verlassen haben, um nach Karrieremöglichkeiten zu suchen. Wien, die größte deutschsprachige Universität wird auf den Plätzen 151-200 des Shanghai Rankings genannt – davor liegen sieben deutsche und sechs Schweizerische Universitäten. 2015 ließ sich die Universität Wien feiern, eine kritische Aufarbeitung ihrer wissenschaftlichen Vergangenheit erfolgte nur bedingt. Ob die entscheidenden Stellen so eine Aufarbeitung überhaupt wollen, ist zunehmend fraglich.

Doch eine solche Aufarbeitung wäre entscheidend, um die systemischen und kulturellen Voraussetzungen sichtbar zu machen, die die wissenschaftliche Produktivität bedingen. Das Beklagen der Qualität der Universitäten ist ohnehin eines der Hauptmerkmale des Homo academicus habsburgicus wie auch austriacus. Manche suchen die Ursachen beim Bologna-Prozess, die anderen bei den vermeintlichen „Invasionen“ deutscher ProfessorInnen. Doch könnten hier die Kontinuitäten der akademischen Kultur die entscheidenden Antworten bieten.

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