„Der Neandertaler starb nicht aus“

Vor 40.000 Jahren ist der Neandertaler von der Bildfläche verschwunden. Als Niedergang will der deutsche Anthropologe Kay Prüfer das nicht bezeichnen. Er sagt: „Genetisch betrachtet ist der Neandertaler nie ausgestorben. Er war sehr erfolgreich.“

Das Bild der menschlichen Urgeschichte ist - allen Fortschritten der Genetik zum Trotz - noch immer bruchstückhaft. Vom Neandertaler etwa lagen bis vor Kurzem nur sechs vollständige Erbgutanalysen vor. Nun hat ein Team um Kay Prüfer vom Max-Planck-Institut für Evolutionäre Anthropologie in Leipzig dieser Liste fünf weitere hinzugefügt. Die Genproben stammen von Fossilien aus Belgien, Frankreich, Kroatien und dem Kaukasus. Ihr Alter: 40.000 bis 50.000 Jahre.

Einseitiger Genfluss?

In diesen zehntausend Jahren ereignete sich historisch Entscheidendes. Der moderne Mensch stieß nach Europa vor, kam dort mit dem Neandertaler in Kontakt und zeugte mit diesem auch fruchtbare Nachkommen. Die Beweise dafür tragen wir in unserem Erbgut: Zwei bis vier Prozent der menschlichen DNA - Afrikaner ausgenommen - stammen nämlich von unserem Verwandten. Wie die deutschen Paläogenetiker im Fachblatt „Nature“ schreiben, gilt das Umgekehrte aber nicht: Im Erbgut der Neandertaler konnten sie bisher keine Spuren des modernen Menschen entdecken. Wie ist das möglich?

Rekonstruktion: Neandertalerfamilie in einer Höhle

REUTERS/Nikola Solic

Der Neandertaler benutzte Werkzeuge und schuf Höhlenmalereien - lange bevor Homo sapiens Europa erreichte

„Die einfachste Erklärung ist, dass wir einfach Pech hatten“, sagt Prüfer im Gespräch mit science.ORF.at. „Die von uns untersuchten Fossilien stammen vermutlich von Populationen, die mit dem modernen Menschen noch keinen Kontakt hatten. Aber ich bin sicher, dass wir irgendwann auch andere finden - solche, in denen sich unsere DNA nachweisen lässt.“

Theoretisch wäre auch denkbar, dass die Mischwesen aus Homo sapiens und Neandertaler ausschließlich in der Sapiens-Gemeinschaft Aufnahme fanden. Doch so eine soziale Erklärung, sagt Prüfer, sei gegenwärtig „Spekulation.“

Verschmelzung zweier Arten

Die genetischen Analysen geben auch Auskunft über die Zahl der damals lebenden Neandertaler. Europaweit dürften es nicht mehr als ein paar Tausend, allerhöchsten ein paar Zehntausend gewesen sein. Der moderne Mensch war damals schon zahlenmäßig deutlich überlegen. Und dieser Umstand wirft auch neues Licht auf das Verschwinden des Neandertalers vor 40.000 Jahren. Man kann dies als die Folge von Krieg und Konkurrenz deuten, aber ebenso als Folge von Kooperation.

Prüfer neigt der zweiten Lesart zu: Seiner Ansicht nach ist der Neandertaler schlichtweg in der Gemeinschaft des Homo sapiens aufgegangen. Er wurde integriert, nicht eliminiert. „Genetisch ist der Neandertaler nie ausgestorben. Heute leben sechs Milliarden Menschen außerhalb von Afrika. Zwei Prozent davon - das ist mehr Neandertaler-DNA als es jemals gegeben hat. Der Neandertaler war sehr erfolgreich.“ So betrachtet lebt er immer noch - in uns.

Robert Czepel, science.ORF.at

Mehr zu diesem Thema: