Klimawandel macht aus Pflanzen Gipfelstürmer

Wegen steigender Temperaturen weichen Gebirgspflanzen in immer höhere Regionen aus – etwa auf dem Hinteren Spiegelkogel in Tirol: Dort hat sich die Zahl der Pflanzenarten seit den 1950ern mehr als verdoppelt.

Dass sich durch die Klimaerwärmung die Verbreitungsgrenzen alpiner Pflanzen- und Tierarten in höhere Lagen verschieben, wurde bereits mehrfach nachgewiesen.

In einer aktuellen Studie von Wissenschaftern aus elf Ländern, darunter Forscher der Akademie der Wissenschaften (ÖAW), der Universität für Bodenkultur (Boku) sowie der Universitäten Wien und Innsbruck, zeigt sich erstmals eine europaweite Beschleunigung dieser Dynamik: In allen neun untersuchten europäischen Regionen (auf Spitzbergen, in Skandinavien, Schottland, der Hohen Tatra, den Karpaten, den Alpen und den Pyrenäen) kommt es zu einer immer stärkeren Zunahme der Artenzahlen.

Primel klettert immer höher

Während im Zeitraum 1957 bis 1966 im Schnitt nur eine neue Art pro Gipfel beobachtet wurde, waren es zwischen 2007 und 2016 mehr als fünf Arten. Harald Pauli vom Institut für interdisziplinäre Gebirgsforschung der ÖAW bezeichnet den Hinteren Spiegelkogel in den Ötztaler Alpen als „Paradeberg“ für diese Studie, er sei ein guter Repräsentant der Situation in Gesamteuropa: „1953 hatten zwei Kollegen aus Innsbruck dort 15 Arten gefunden, 1992 habe ich selbst dort 19 Arten gezählt und jetzt waren es 37.“

Neuankömmling auf dem Hinteren Spiegelkogel in Tirol: die Klebrige Primel.

Harald Pauli

Neuankömmling auf dem Hinteren Spiegelkogel in Tirol: die Klebrige Primel.

Als konkretes Beispiel einer neuen Gipfel-Art nennt Pauli die Klebrige Primel: Diese sei bis zu Höhen von 3.000 bis 3.200 Metern häufig, auf dem 3.424 Meter hohen Spiegelkogel bis vor kurzem aber nicht vorgekommen. Die Rate der Neubesiedlung verlief parallel zum Temperaturanstieg der vergangenen Jahrzehnte, was „auf die menschgemachte Klimaerwärmung als treibenden Faktor hinweist“, so Manuela Winkler vom Department für Integrative Biologie und Biodiversitätsforschung der Boku in einer Aussendung. Bestätigt werde das durch den überdurchschnittlichen Anteil wärmeliebender Arten unter den Neuankömmlingen.

Alpine Arten könnten verschwinden

Ob es dadurch zu einem Verdrängungswettbewerb kommt und Arten verschwinden, sei nicht im Fokus der aktuellen Studie gestanden, sagte Pauli. „Wir sehen aber auf den höchsten Gipfeln, dass die extremen Hochlagenarten, die sehr kälteangepasst sind, zurückgehen.“ Auch Stefan Dullinger vom Department für Botanik und Biodiversitätsforschung der Universität Wien bezeichnete die Zunahme der Artenzahl als „Übergangsphase, die letztendlich zum Verschwinden vieler genuin alpiner Arten von den Berggipfeln führen dürfte“.

In ihrer Studie haben die Wissenschaftler historische Pflanzenlisten alpiner Gipfel ab dem 19. Jahrhundert verwendet und mit aktuellen Erhebungen verglichen. Dazu kamen Daten des im Jahr 2000 initiierten weltweiten Monitoring-Programms GLORIA (Global Observation Research Initiative in Alpine Environments), das in Österreich von der Boku und der ÖAW koordiniert wird.

science.ORF.at/APA

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