Philosophieren zu zweit oder zu dritt?

Auch die sprichwörtlichen Philosophen im Elfenbeinturm sind nicht immer alleine. Speziell nach 1968 schrieben viele von ihnen als Duos – und dann gab es oft noch Sekretärinnen, deren Rolle nicht unterschätzt werden darf, wie der Germanist Christian Wimplinger in einem Gastbeitrag ausführt.

Die philosophische Tätigkeit stellt man sich gerne als ein einsames Geschäft vor. Ihren eigensinnigen Gedanken gehen die Theoriehungrigen lieber in Abgeschiedenheit nach. Bloß die am Papier kratzende Feder oder – wer es gerne technisch up-to-date hätte – die klappernde Tastatur konterkariert die konzentrierte Stille. Die studentische Protestbewegung 1968 in Deutschland und Frankreich macht mit diesem Bild Schluss. Dazu nimmt sie auf Umwegen Anleihen aus Sigmund Freuds Schreib- und Behandlungszimmer der Wiener Berggasse 19.

Porträtfoto des Germanisten Christian Wimplinger

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Über den Autor

Christian Wimplinger studierte Germanistik und Philosophie. Seit 2016 ist er Mitglied der interdisziplinären Forschungsplattform „Mobile Kulturen und Gesellschaften“ an der Uni Wien. Er lehrt und promoviert dort am Institut für Germanistik und ist derzeit Junior Fellow am Internationalen Forschungszentrum Kulturwissenschaften (IFK Wien).

Die Straßen des Pariser Mai 1968 lassen das wohl berühmteste Philosophen-Duo des 20. Jahrhunderts aufeinander treffen. In der Philosophiegeschichte ist bekannt, dass hier einander der Theoretiker der Differenz, Gilles Deleuze, und der Psychoanalytiker Félix Guattari zum ersten Mal kennenlernten – eine Begegnung, aus der Bücher wie der „Anti-Ödipus“ (1972) oder „Tausend Plateaus“ (1980) hervorgingen.

Viel weniger bekannt ist jedoch, dass sich auch bei den deutschen Protestgenossen ein schreibendes Kooperationsgespann formierte: Der Sozialphilosoph Oskar Negt und der Schriftsteller, Film- und Fernsehproduzent Alexander Kluge erarbeiten fast zeitgleich mit ihren französischen Kollegen die Bücher „Öffentlichkeit und Erfahrung“ (1972) sowie „Geschichte und Eigensinn“ (1981), die sowohl thematisch als auch in der Darstellungsform zahlreiche Parallelen zu den Franzosen aufweisen.

Neben der Philosophie Immanuel Kants und Karl Marx stellt vor allem die Psychoanalyse Freuds eine wichtige Referenz dar, an der sie sich beide Duos abarbeiten. Deleuze/Guattari sowie Negt/Kluge sind sich darin einig: Freuds Begriff des Unbewussten ist durch den Ödipus-Komplex zu stark auf die familiäre Sphäre verengt. Andere Einflussfaktoren wie ökonomische Produktionsprozesse und politische Repression – also jene Themen, die der Protestbewegung auf den Nägeln brennen – werden von Freud zu wenig einbezogen.

Arbeiten im home office

Die Psychoanalyse ist für Negt und Kluge aber nicht nur thematisch ein Kontrapunkt in der Auseinandersetzung mit den aktuellen Problemen, die in den Universitäten und auf den Straßen um 68 ausverhandelt werden. Auch was ihre Technik des Schreibens anbelangt, nehmen sie Anleihen an der Arbeitsweise Freuds, die er in langjähriger Zusammenarbeit mit seinen Patientinnen und Patienten entwickelte.

Die teils pamphletische Abwehrhaltung gegenüber der psychoanalytischen Theorie in den 1960er Jahren muss aus einer geschichtlichen Perspektive betrachtet werden, die die Entwicklung der Schreibtechniken berücksichtigt. Durch diesen Blickwinkel erscheint der Bruch mit der Psychoanalyse sehr viel weniger stark, als ihre inhaltliche Ablehnung zunächst suggerieren mag.

Senkung der „Ich-Schranke“

Das Repertoire der analytischen Techniken, die Gastlichkeit der Schreibstätte und die mehrschichtige Sprachkonzeption Freuds sind mit jenen Negt/Kluges über weite Strecken verwandt. Die Parallele beginnt bereits mit dem Ort des Schreibens. Denn Negt und Kluge treffen einander zur Arbeit immer in ihren Wohnungen in Frankfurt, später Hannover und München. Hier wird dafür gesorgt, dass sich der andere beim Sprechen bequem fühlt, ohne aber für die Herstellung dieser Bequemlichkeit zu viel kostbare Zeit zu vergeuden. Dass dieses „Sich-Aufeinander-Einlassen“ so rasch vor sich geht, könne auf Dritte unfreundlich wirken, meint Kluge. Doch habe es den Effekt, „die Ich-Schranke“ konsequent zu senken, da durch den schnellen Arbeitseinstieg keine „natürliche Rechthaberei“ um sich greife.

Veranstaltungshinweis

Am 25.4. hält Christian Wimplinger den Vortrag: „Analyse zu dritt. Kooperative Schreibformationen nach 68“. Ort: IFK Internationales Forschungszentrum Kulturwissenschaften | Kunstuni Linz, Reichsratsstraße 17, 1010 Wien. Zeit: 18.15 Uhr

Auch Freud versucht seine Patienten während der strikt eingeteilten Behandlungsstunden bequem zu lagern, um ihnen das Erzählen und freie Assoziieren unterhalb der Ich-Grenze zu erleichtern. Die Zeit (und damit auch das Geld) ist knapp, daher kommt man besser gleich zum Thema, lautet Freuds analysetechnisches Kredo, durch das Widergestände gegen die Behandlung überwunden werden sollen.

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Wen kümmert’s, wer schreibt?

Alexander Kluge betont in seiner Darstellung ihres gemeinsamen Schreibprozesses, die unter dem Titel „Momentaufnahmen aus unserer Zusammenarbeit“ veröffentlicht wurde, dass ihr Denken auf dem mündlichen Gespräch basiert. Er nennt seinen Partner Oskar Negt einen „guten Erzähler“. Auch Freud bezieht sich auf Erzählgattungen, vergleicht die mündlich vorgetragenen Fallgeschichten seiner Patientinnen mit Novellen. Aber in beiden Zusammenhängen fragt die gegenwärtige literaturwissenschaftliche Schreibprozessforschung: Wer schreibt das Erzählte eigentlich auf? Wann wird es aufgeschrieben und womit?

Im Notieren während der Behandlung sieht Freud eine Gefährdung des Patientenwohls. Und eine dritte Person im Raum würde die analytische Situation stören. Er hat daher die Mnemotechnik der „freischwebenden Aufmerksamkeit“ entwickelt, mit deren Hilfe er die Rede seiner Patientinnen erst am Abend nach der Behandlung niederschreibt. Negt und Kluge machen das anders. Sie benötigen einen „Dritten im Raum, der die Sätze einsammelt“.

Diktat ans Sekretariat

Diese Dritte im Raum ist die Sekretärin Elfriede Olbrich, der – im Falle von „Öffentlichkeit und Erfahrung“ und dem ersten Teil von „Geschichte und Eigensinn“ – die besprochenen Absätze diktiert werden. Strukturell hat sie als die eigentliche Schrift-Instanz eine wichtige, ja unerlässliche Rolle inne.

Ihr Name (und der der weiteren MitarbeiterInnen) wird in einer Nachbemerkung von „Geschichte und Eigensinn“ genannt und ihr eine „Auswirkung auf den ganzen Inhalt und die Kooperation“ attestiert. Ein Diktat setzt diejenige, der diktiert wird, immer einem Spannungsverhältnis zwischen Autonomie und Heteronomie aus. Aus der Perspektive der heutigen Schreibprozessforschung wecken solche Mittlerfiguren zwischen mündlicher Äußerung und deren Verschriftlichung daher besondere Aufmerksamkeit.

Strukturell nimmt sie im Herstellungsprozess der Bücher die zentrale Stelle ein. Denn erst durch ihre Arbeit können die Gespräche zwischen den beiden Autoren in Text transformiert werden, ohne dass der Fluss der Gedanken ins Stocken gerät. Ihre Reinschrift bietet die Grundlage, auf der kritische Einwände gegen die Inhalte nicht mehr störend wirken.

Wechselseitige Kritik des eigenen Denkens ist als philosophische Haltung in der Frankfurter Schule vorausgesetzt. Die Wichtigkeit einer kritischen Haltung im Schreiben muss auch vor der in den 60er-Jahren heftig diskutierten Schreibtisch-Täterschaft während der NS-Zeit gesehen werden. Um diese Haltung bewahren zu können, brauchen Negt und Kluge Frau Olbrich als dritte.

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