„Einzigartiger Analytiker der Macht“

Auch und gerade heute noch lohnt es sich Karl Marx zu lesen, sagt der renommierte Wirtschaftshistoriker Lord Skidelsky. Denn wie kein anderer habe dieser Macht als grundlegenden Faktor der Wirtschaft analysiert.

„Die Bourgeoisie hat in der Geschichte eine höchst revolutionäre Rolle gespielt … und alle idyllischen Verhältnisse zerstört“, schrieb Karl Marx gemeinsam mit Friedrich Engels in dem 1848 erschienenen „Kommunistischen Manifest“. Auch diese bewundernd-schaurigen Zeilen lesen sich in der heutigen Arbeitswelt, in der immer mehr Roboter Menschen ersetzen, erstaunlich aktuell.

Der zum Lord geadelte Wirtschaftshistoriker Robert Skidelsky, Autor einer preisgekrönten und umfangreichen Biografie über den britischen Ökonomen John Maynard Keynes, hält Marx anlässlich dessen 200. Geburtstag für „einzigartig“.

science.ORF.at: Keynes soll Marx nicht sehr gerne gelesen haben, warum eigentlich?

Lord Robert Skidelsky

Ursula Hummel-Berger/ORF

Robert Skidelsky ist Professor Emeritus für politische Ökonomie an der Universität Warwick und derzeit Gast am Institut für die Wissenschaften vom Menschen in Wien.

Robert Skidelsky: Er hat vor allem den Stil von Marx für unlesbar und unmöglich gehalten. Die Methode seiner Argumente ist sehr kontinental, sie gründet auf der Dialektik von Hegel. Für die englische intellektuelle Tradition ist dieses Denken wirklich sehr fremd, unklar und nicht transparent. Keynes fand auch, dass Marx seinen Finger nicht in die wirkliche Wunde legt. Für Keynes war das die instabile Nachfrage in der Wirtschaft. In ihren Utopien hingegen waren sich Marx und Keynes sehr ähnlich. Beide haben sich eine Welt jenseits des Kapitalismus vorgestellt. Marx dachte, dass das Zeitalter des Kommunismus erst kommen werde, nachdem der Kapitalismus seine Produktionspotenziale erschöpft hat. Das Problem ist, dass er in Russland und anderen Teilen der Welt viel früher gekommen ist. Sowohl Marx als auch Keynes freuen sich auf das Ende des Kapitalismus, aber er müsste seine Aufgabe erfüllen, bevor die nächste Phase beginnt.

Da stellt sich die Frage: Was ist die Aufgabe des Kapitalismus?

Skidelsky: Die klassische Ökonomie geht davon aus, dass die Menschen unersättlich sind in ihrem Verlangen: In diesem Sinn ist die Aufgabe des Kapitalismus niemals erfüllt. Denn er ist die effektivste Methode, Verlangen und Konsum zu vervielfachen. Die Wirtschaftswissenschaften singen genau dieses Lied: „Das Ende der Produktion ist Konsum, und das Verlangen der Menschen nach Konsum ist ohne Grenzen. Deshalb gibt es keine Grenzen für die Produktion, und deshalb gibt es auch keine Grenzen für den Kapitalismus.“ Man muss diese Sichtweise aber nicht teilen und kann die Unersättlichkeit als Kernbegriff menschlicher Existenz bezweifeln – und mit ihr die Idee, dass wir nur arbeiten um zu leben. Ich denke, wir sollten Arbeit auf andere Art verstehen und nicht nur mit Konsum verbinden.

Auszug aus einem Exzerptheft von Karl Marx, in dem er sich 1859 mit Martin Luther beschäftigt

Internationales Institut für Sozialgeschichte in Amsterdam

Auch seine Handschrift war schwierig: Auszug aus einem Exzerptheft von Karl Marx, in dem er sich 1859 mit Martin Luther beschäftigt, zu sehen bei der aktuellen Marx-Ausstellung in Trier

Marx hatte eine gespaltene Seele: Auf der einen Seite der Analytiker, auf der anderen der Revolutionär …

Skidelsky: Das stimmt. Seine Analysen brachten ihn zu der Annahme, dass der Kapitalismus noch eine ganze Weile existieren würde, und zwar überall auf der Welt, nicht nur im Westen. Der politische Aktivist Marx wollte aber so schnell wie möglich eine Revolution. So brachte er seine Argumente durcheinander und dachte, dass die Revolution bald kommen würde. Lenin hat die Kerndoktrin von Marx dann verändert und gemeint, dass Revolutionen auch in relativ unterentwickelten Gesellschaften wie Russland stattfinden können.

Das gleiche gilt für Mao Zedong in China. Der Kommunismus wurde eingeführt, bevor der Kapitalismus sozusagen seine Arbeit getan hat. Wie sich herausstellte, war dieser Kommunismus im Vergleich zum Kapitalismus viel weniger effizient darin, Wohlstand zu vermehren. Er kam also zu früh und ist meiner Ansicht nach auch nicht die richtige Utopie. Denn er ignoriert die Wichtigkeit von Privatbesitz. Privater Besitz verschafft Menschen persönliche Identität und auch einen bestimmten Sinn, am Wohlstand der Allgemeinheit teilzuhaben. Man kann diesen Sinn nicht entwickeln, wenn man nur ein kleines Rädchen im Produktionsprozess ist. In einem Produktionsprozess, den man nicht versteht und nicht kontrollieren kann und in dessen Rahmen man noch dazu die einzige Möglichkeit eines Einkommens hat.

Auch Gegner von Marx sagen heute, dass es wertvoll ist, ihn als Analytiker des Kapitalismus zu lesen. Welche seiner Texte empfehlen Sie?

Skidelsky: Nicht „das Kapital“. Aber das Kommunistische Manifest ist auf jeden Fall lesenswert, eine wunderbar aktuelle Sicht auf die Art, wie der Kapitalismus alles Bestehende zerstört und sich die Menschen auf der Erde wie Fremde fühlen. Das sind sehr tiefgründige Einsichten, die viele Soziologen übernommen haben. Marx ist zudem ein einzigartiger Analytiker der Macht. Die Wirtschaftswissenschaften schließen die Macht als bestimmenden Faktor von wirtschaftlichen Beziehungen aus. Sie verstehen Macht nur in einem sehr engen Sinn, als Marktmacht. Aber die Macht einer ganzen Klasse über das gesamte Produktionssystem ist ihnen fremd. Ökonomen können es nicht fassen, dass wir heute in einer Diktatur der Banken leben. Die Welt wird von einer Finanzoligarchie betrieben – das ist Macht! Das hat enorme Auswirkungen auf die Wirtschaftsbeziehungen in allen Winkeln der Erde. Marx hat das verstanden, kein bürgerlicher Ökonom hat das jemals getan. Wir tendieren dazu, in Ideen zu denken: Es gibt gute Ideen und schlechte. Aber die Frage ist, warum manche Ideen besser gedacht werden als andere. Marx hat darauf die Antwort gegeben: Weil sie den Interessen der Macht dienen.

Das "Kapital" in der aktuellen Marx-Ausstellung am Landesmuseum Trier

Landesmuseum Trier

Das „Kapital“ am Landesmuseum Trier

Warum unterstützen Menschen dieses System, die nicht zur Finanzoligarchie gehören?

Skidelsky: Nun, da hilft es bei Antonio Gramsci nachzulesen. Er hat dieses Phänomen hegemoniale Macht genannt, man könnte es auch „soft power“ nennen. Das ist nicht die Macht der Pistolen, sondern die Macht, eine bestimmte Betrachtungsweise der Welt durchzusetzen, auch wenn sie sich gegen die eigenen Interessen richtet. Wenn man diesen Gedanken zu weit führt, wird man verrückt, dann ist Religion das Opium des Volks, wie Marx gemeint hat, usw. Das ist natürlich eine sehr komplizierte Sache, die Menschen werden nicht einfach nur manipuliert. Auch die Werbung, die eindeutig manipulativ ist, bezieht sich auf etwas, was bei den Menschen schon vorhanden ist. Was ich wichtig finde: Die Menschen müssen sich irgendwie heimisch fühlen in der Welt. Sie müssen fühlen, dass das ihre Welt ist. Wenn sie sich zu stark entfremdet fühlen, geschieht genau das, was in der Gegenwart geschieht: Dann kommt es auf der einen oder anderen Seite zu populistischen Aufständen. Und wir kennen aus der Geschichte deren destruktives Potenzial. Im Moment gehen wir sehr selbstgefällig mit Ungarn, Brexit, Trump etc. um. Viele Menschen haben den Glauben an ihre politischen Führer und die regierende Klasse verloren.

Hypothetische Frage: Wenn Marx heute noch leben würde, wo würde er sich zwischen diesen nationalistisch-populistischen Bewegungen und ihrem vermeintlichen Feind, den „globalistischen Eliten“, verorten?

Skidelsky: Das ist genauso unmöglich zu beantworten wie die Frage, wo Keynes stehen würde. Beide haben in verschiedenen Welten gelebt, mit verschiedenen Möglichkeiten, weshalb ihre politischen Ziele andere waren, als sie es vielleicht heute wären. Marx wäre sicherlich auch heute ein superber Analytiker des Populismus. Den historischen Faschismus haben die Marxisten feinsinnig analysiert: nämlich als Kraft, den die kapitalistische Produktion zu dieser Zeit benötigt hatte, die Arbeiterklasse zu unterdrücken, was mit den normalen liberalen Mitteln nicht mehr gelungen war. Das war zwar scharfsinnig, aber nicht ganz vollständig: Denn Faschismus war nicht nur etwas Rechtsradikales. Wir vergessen, dass der ursprüngliche Namen der NSDAP „Deutsche Arbeiterpartei“ gelautet hat. Diese hatte ein soziales Programm, so wie auch einige der populistischen Parteien von heute. Trumps Sozialprogramm etwa ist ein nationales: „America first, wir beschützen US-Jobs, und wenn das Importverbote aus anderen Ländern bedeutet, dann machen wir das.“

Büste von Marx in der Ausstellung

Stadtmuseum Trier

Büste in der Ausstellung zum 200. Geburtstag von Marx am Stadtmuseum Trier

Ähnlich ist das auch bei den nationalistischen Bewegungen gegen die Europäische Union, nur weil sie freien Austausch aller Produktionsfaktoren erlaubt. Marx war für diesen freien Austausch, aber er sollte nicht von der kapitalistischen Klasse kontrolliert werden, sondern in einem sozialistischen, internationalistischen Projekt. Marx war Internationalist, kein Protektionist. Aber wenn man den Kapitalismus schon mal hat und es keine Hoffnung auf Revolution gibt, dann ist Protektionismus für entwickelte Staaten keine unlogische Alternative. Denn ansonsten geraten die Jobs und Einkommen unter permanenten Druck.

Warum sollte man Marx heute noch lesen?

Skidelsky: Erstens weil er gute Einsichten verschafft in die ungeheuren Kräfte des Kapitalismus, die sowohl produktiv sind als auch zerstörerisch – sie zerstören alle bestehenden Beziehungen, wie es Marx ausdrückte. Menschen wollen aber ein gewisses Element an Kontinuität und Sicherheit, das gehört zu ihrem Wesen. Wir können ständige Wechsel nicht ertragen. Zweitens weil Marx wie kein anderer versteht, wie Macht verwendet wird, um bestimmte Ideologien im politischen und wirtschaftlichen Leben zu etablieren.

Interview: Lukas Wieselberg, science.ORF.at

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