Schmuckeremiten und Gartenzwerge

Die Kulturgeschichte ist voll von bizarren Episoden. So haben englische Adelige einst in ihren Gärten zur Belustigung Eremiten angestellt. Warum Gartenzwerge deren ideologischen Nachfolger sind, erklärt der Kulturhistoriker Antonio Lucci.

science.ORF.at: Warum beschäftigen Sie sich als Kulturwissenschaftler mit Gartenzwergen?

Antonio Lucci: Die stehen erst am Ende meiner Forschung. Mein ursprüngliches Interesse drehte sich um Askese. Da denkt man immer an Verzicht und Kasteiung, an Praktiken heiliger Menschen, meistens Männer. Dabei bedeutet Askese im Griechischen ursprünglich Übung: jene körperlichen und geistigen Übungen, die man macht, um zu werden, was man eigentlich schon ist. In der Antike hatte das viel mit Essen zu tun: Einige Philosophen haben aus politischen Gründen auf Fleisch oder bestimmte Sorten von Gemüse verzichtet.

Antonio Lucci

Lukas Wieselberg, ORF

Antonio Lucci ist Projektfellow am Forschungsinstitut für Philosophie Hannover und derzeit Gast des Direktors am Internationalen Forschungszentrum Kulturwissenschaften | Kunstuni Linz in Wien.

Warum?

Lucci: Fleisch Essen war damals die Ausnahme. Wenn Fleisch gegessen wurde, war das ein Opferritual, das die Gemeinschaft festigen sollte. Wer auf Fleisch verzichtete, machte klar, dass er dieser Form von Gemeinschaft nicht zustimmte. Das war eine Praxis politischer Dissidenz.

Dann kamen die christlichen Asketen …

Lucci: In den ersten fünf Jahrhunderten des Christentums gab es die „Athleten der Verzweiflung“, wie es der Dadaist Hugo Ball nannte: Menschen, die in der Wüste gefastet, jahrzehntelang auf Säulen gelebt und sich komplett von der Gesellschaft zurückgezogen haben. Zugleich gab es aber auch eine gemeinschaftliche Form der Askese: die Mönche und Nonnen in den Klöstern. Sie haben eine Lebensform gewählt, die in ständigem Austausch mit der Gesellschaft war, etwa weil dort auch Lebensmittel produziert wurden. Die individuellen Formen der Askese wurden nach dem 5. Jahrhundert von der Kirche immer stärker kritisiert. Die Vorstellung, alleine durch Übungen persönliche Erlösung erreichen zu können, galt als hochmütig. So wurden die gemeinschaftlichen Formen der Askese unter dem Dach der Kirche immer wichtiger.

Wie hat sich die Askese dann im späten Mittelalter und in der Renaissance weiterentwickelt?

Lucci: Das ist ziemlich kompliziert. Für England habe ich mir das genauer angesehen: 1536, nach Abtrennung der anglikanischen Kirche, wurden dort die katholischen Orden aufgelöst. Die Klöster wurden abgerissen, für säkulare Zwecke umgewidmet oder oft auch einfach verlassen. Darauf beruht auch die romantische Faszination für Ruinen. In England gab es danach keine direkten Erfahrungen mehr mit Eremiten oder Mönchen, und sie wurden zu Figuren von Sehnsucht und Faszination. Ebenfalls fasziniert war man von Gärten, und dort wurde es üblich, Eremitagen aufzubauen: kleine Häuschen, die die Ideen von Askese und Meditation darstellten. Irgendwann kamen die Adeligen dann auf die Idee, dass eine Eremitage ohne Bewohner unvollständig ist. Und so haben sie Menschen beauftragt, in ihre Eremitage einzuziehen.

Das waren dann die Schmuckeremiten?

Lucci: Das Phänomen im engeren Sinn gab es nur zwischen 1714 und 1830. Schon davor sind Spuren zu finden von Eremiten in Gärten, die aber nicht bezahlt wurden. Ich bezeichne nur jene als Schmuckeremiten, die einen Vertrag hatten, Geld dafür bekamen und bestimmte, vertraglich fixierte Regeln befolgen mussten.

Veranstaltungshinweis

Am 7.5. hält Antonio Lucci den Vortrag: “Von Asketen zu Gartenzwergen: Die seltsame Kulturgeschichte der Schmuckeremiten". Ort: IFK Internationales Forschungszentrum Kulturwissenschaften | Kunstuni Linz, Reichsratsstraße 17, 1010 Wien. Zeit: 18.15 Uhr

Wie sahen diese Regeln aus?

Lucci: Der übliche Zeitraum betrug sieben Jahre, in denen der Eremit sich Haare, Nägel und Bart nicht schneiden und auch keinen anderen Menschen treffen durfte. Auf der anderen Seite wurden sie mit allem Lebensnotwendigem versorgt. Über ihr Essen steht nichts in den Verträgen, bloß dass sie alles bekommen sollten, was sie brauchen. Die einzig strengen Regeln betrafen die absolute Einsamkeit und die körperliche Erscheinung.

Hat das in der Praxis wirklich funktioniert?

Lucci: Das ist nicht ganz klar. Es ist sehr kompliziert, glaubwürdige Verträge zu finden, mir ist das nur in vier Fällen gelungen. Ich habe auch lustige Kommentare in den Dokumenten gefunden, etwa den Hinweis, dass ein Vertrag sieben Jahren hätte dauern sollen, „aber nach drei Wochen wurde der Eremit in einem Pub gefunden“. Oder: „Nach zwei Wochen ist der Eremit verschwunden.“ Der einzige glaubwürdige Fall, den ich kenne, spricht von vier absolvierten Jahren. Das zeigt, wie schwierig es offenbar war, einen Schmuckeremiten zu finden. Ein weiteres „Problem“ aus Sicht des Adels war die Debatte über Sklaverei: Im 19. Jahrhundert war es nicht mehr in Ordnung, einen Menschen zu besitzen. Deshalb sind die Eremiten auch durch Automaten ersetzt wurden.

Automaten?

Lucci: Ja, Holzpuppen, die sich bewegt haben oder bewegen ließen, um die Gartenbesucher zu überraschen. Eremiten wie Automaten dienten ja als Kuriosum. Die Adeligen haben ihre Gärten damals für das Publikum geöffnet und wollten zeigen, wie überraschend und kreativ ihre Einfälle waren.

Diese Automaten haben aber noch nichts mit den Gartenzwergen zu tun, denn die kommen doch aus Deutschland …?

Lucci: Das stimmt, genauer gesagt aus Thüringen, von wo sie sich dann in Deutschland stark verbreitet haben. Dennoch war meine erste Vermutung, dass man eine Verbindung zwischen den Schmuckeremiten und den Gartenzwergen herstellen könnte. Gartenästhetisch und historisch geht das zwar nicht. Aber hermeneutisch sind sie verbunden. Kulturgeschichtlich betrachte ich Gartenzwerge als versteinerte Schmuckeremiten und somit als kristallisierte Formen asketischer Praktiken.

Sehen Sie auch handfeste Kontinuitäten?

Lucci: Ja, v.a. im Wissenstransfer: Adelige aus England haben Europa besucht und sich inspirieren lassen. Wieder zurück wollten sie die Welt, die sie in ihren Reisen gesehen haben, im Kleinformat rekonstruieren. So kann man in englischen Gärten kleine Varianten des Vesuvs sehen, aber auch Gartenzwerge aus der italienischen Renaissance, die sogenannten „gobbi“. Schmuckeremiten waren auch so eine Kuriosität: Sie waren nicht wichtig, weil sie weise waren, sondern weil sie das Publikum amüsiert haben.

Wie geht das eigentlich zusammen: Adelige, die sich Eremiten kaufen – also Symbole von Weltabgewandtheit und Verzicht?

Lucci: Das war auch meine Frage. Ich habe keine Spuren gefunden, die die Psychologie der Adeligen oder der Eremiten rekonstruieren könnten. Meine Spekulation aber ist, dass der Besitz eines Menschen der höchste Ausdruck von Reichtum war in einer Zeit, in der Sklaverei nicht mehr verbreitet war - noch dazu eines Menschen, der eine gewisse Idee von Weisheit verkörpert. Damit konnte man sich schmücken wie mit einem Diamanten, nur ist das Symbol noch mächtiger, weil man etwas gekauft hat, was man eigentlich nicht kaufen kann.

Und die Eremiten?

Lucci: Das waren oft arme Menschen. Wenn die sieben Jahre ihres Vertrags abgelaufen waren, wurde ihnen eine lebenslange Rente versprochen, aus ihrer Sicht war das also eine Lebensversicherung. Die ersten Berichte über Schmuckeremiten stammen aus Irland, wo genau in der Zeit Hungersnöte herrschten. Diese Berichte sind verschleierte Kritiken gegenüber England. Während die Iren verhungerten, haben die Engländer keine Hilfe geschickt – vielleicht ja, weil sie so beschäftigt waren mit ihren Schmuckeremiten.

Interview: Lukas Wieselberg, science.ORF.at

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