Neandertaler-Gehirne in der Petrischale

Warum hat von den einst existierenden Menschenarten nur Homo sapiens überlebt? Der schwedische Genetiker Svante Pääbo sucht die Antwort in einem spektakulären Experiment: Er will Miniaturgehirne mit Neandertaler-DNA züchten.

science.ORF.at: Früher haben die Anthropologen Knochen für ihre Studien verwendet, jetzt stützen sie ihre Analysen auf DNA. Wie hat sich das große Bild der Menschheitsgeschichte dadurch verändert?

Svante Pääbo: Die Knochen sind nach wie vor wichtig, denn wir sind ja von solchen Funden abhängig, um überhaupt an DNA zu kommen. Aber natürlich ist damit nun ein zusätzlicher Weg entstanden, um Menschheitsgeschichte zu erforschen. Wenn man tief in sie blickt, dann zeigt sich: Unsere Vorfahren haben sich mit dem Neandertaler genetisch vermischt. Ich trage zum Beispiel ein bis zwei Prozent des Neandertalers in mir. Es gibt mittlerweile auch Labors, die DNA-Untersuchungen mit hunderten und tausenden Skeletten durchführen. Da geht es um die Populationsgeschichte des Menschen - hier muss man eines auseinanderhalten: Die genetische Geschichte ist etwas anderes als die kulturelle Geschichte. Erst wenn wir beide glaubhaft rekonstruiert haben, können wir beide vergleichen.

Svante Pääbo

ÖAW/Daniel Hinterramskogler

Svante Pääbo ist einer der weltweit führenden Forscher im Fach Paläogenetik. Am Leipziger Max-Planck-Institut für Evolutionäre Anthropologie leitet er die Abteilung Evolutionäre Genetik. Am 18. Mai hielt er an der Akademie der Wissenschaften in Wien einen Vortrag.

Gibt es ein Beispiel für den Zusammenhang von Genetik und Kultur?

Eine amerikanische Gruppe hat jüngst nachgewiesen, dass die Bevölkerung Großbritanniens in der Steinzeit fast komplett durch neu angekommene Populationen ersetzt wurde. Das war schon überraschend. Ich denke, wir werden weiterhin solche Überraschungen erleben.

Und in Mitteleuropa, etwa in Deutschland und Österreich?

In dieser Region sehen wir auch, dass sich der Gen-Pool massiv verändert hat - und zwar nach der Ankunft des Ackerbaus.

Welchen Zeithorizont können sie mit ihren Methoden abdecken? Oder anders ausgedrückt: Gibt es ein Haltbarkeitsdatum für alte DNA?

Wie lange sich DNA erhält, hängt stark von den Umweltbedingungen ab. Je kälter es ist, desto besser: Die älteste DNA, die bestimmt wurde, stammt aus dem sibirischen Permafrost. Das hat eine dänische Gruppe gemacht: Es handelt sich um ein 700.000 Jahre altes Pferdegenom. Das älteste menschliche Genom, das wir bestimmt haben, kommt aus einer Höhle in Spanien. Die DNA stammt von einem frühen Vorfahren des Neandertalers, sie ist ca. 430.000 Jahre alt. In den tropischen und subtropischen Bereichen ist es natürlich viel schwieriger solche Analysen durchzuführen. Es kann allerdings auch vorkommen, dass sich zwei Knochen aus der gleichen Höhle ganz unterschiedlich verhalten. Bei dem einen funktioniert es, bei dem anderen nicht - und wir verstehen nicht wirklich, warum das so ist.

Wie viele Menschenarten gab es vor 100.000 Jahren auf der Erde?

Mit dem Artbegriff bin ich vorsichtig, aber es gab unterschiedliche Gruppen: Es gab die Neandertaler in Europa; es gab entfernte Verwandte der Neandertaler in Asien, die Denisovaner; es gab auf der Insel Flores und wahrscheinlich auch auf anderen Inseln Indonesiens noch frühere Abzweigungen von der menschlichen Linie, die sogenannten Hobbits; die Vorfahren der heute lebenden Menschen waren damals in Afrika - und sie waren nicht alleine: Es gab in Afrika auch noch andere Gruppen. Erst in den letzten 30.000 gab es nur mehr eine Form des Menschen. Das ist historisch einzigartig.

Rekonstruktion: Neandertalerfamilie in einer Höhle

REUTERS/Nikola Solic

Der Neandertaler überlebte von unseren menschlichen Verwandten am längsten. Er starb vor 30.000 Jahren aus.

Das macht etwa fünf Menschenarten oder -gruppen. Könnten es nicht viel mehr gewesen sein? Schließlich ist es ziemlich unwahrscheinlich, dass man gut erhaltene Knochen aus dieser Zeit findet.

Dieser Meinung bin ich auch. Das ist es, was wir im Moment kennen. Und es ist durchaus möglich, dass wir in Zukunft weitere Menschengruppen finden. Vor zehn Jahren hätte ich das nicht für möglich gehalten. Doch in der Zwischenzeit haben wir den Denisova-Menschen entdeckt. Ich kann mir gut vorstellen, dass noch etwas auftaucht.

Warum sind eigentlich die anderen Menschen ausgestorben?

Es ist sehr wahrscheinlich, dass es etwas mit dem modernen Menschen zu tun hat. Wäre nur der Neandertaler verschwunden, könnte man sagen: Da gab es vielleicht eine Epidemie oder dergleichen. Aber es sind alle verschwunden. Es hat wohl mit der Konkurrenz zu tun. Ein kleiner Trost: Wir haben uns mit ihnen vermischt. Neandertaler und Denisovaner sind nicht völlig ausgestorben, sie leben heutzutage in uns ein bisschen weiter.

Stichwort Konkurrenz: Es gibt die Hypothese, dass der moderne Mensch kognitiv überlegen war und etwa über bessere Jagdstrategien verfügte. Vielleicht war er nur aggressiver und brutaler?

Denken Sie an die Menschenaffen der Gegenwart. Der Orang-Utan ist vom Aussterben bedroht. Wir wissen, woran es liegt: Abholzung, Wilderei, es ist das menschliche Verhalten. Ob das Überlegenheit widerspiegelt oder etwas anderes - das muss jeder für sich entscheiden.

Wie könnte man herausfinden, was den Homo sapiens von den anderen Menschen unterschied?

Zum Beispiel durch die Hirnentwicklung. Mit modernen Techniken kann man heutzutage Mutationen in Stammzellen einführen. Wir planen, diese Stammzellen in einen urtümlichen genetischen Zustand zurückversetzen - so, wie es beim Neandertaler oder bei dessen Vorfahren war. Der nächste Schritt ist, diese Zellen dann in der Petrischale zur Differenzierung anzuregen. Vielleicht liegt der Grund dafür, dass nur der moderne Mensch all diese Technologien entwickelt hat und heute zu Milliarden auf der Erde lebt, in der Hirnentwicklung?

Was könnte so ein Experiment zeigen?

Was bei diesem Versuch entsteht, sind keine ganzen Gehirne, sondern sogenannte Organoide. Diese Organoide sind ein bis zwei Millimeter groß und spiegeln Frühstadien der Hirnentwicklung wider. Wenn wir nachweisen könnten, dass sich beim modernen Menschen Nervenzellenverbindungen schneller oder besser als beim Neandertaler ausbilden, dann wäre das sicherlich ein Traumergebnis.

Organoid unter dem Mikroskop

Institute of Molecular Biotechnology (IMBA)

Mini-Gehirn: Organoide könnten etwas über die menschliche Urgeschichte verraten

Vielleicht war es ja schlicht historischer Zufall, dass sich gerade unsere kulturelle Entwicklung so stark beschleunigt hat.

Ich bin geneigt zu sagen, dass es einen biologischen Hintergrund für diese Entwicklung gibt. Wenn es bloß darum gegangen wäre, ob jemand kulturelle Erfindungen macht - in diesem Fall hätte ich erwartet, dass die Neandertaler und Denisovaner das früher oder später erlernt hätten, dass sich all diese Erfindungen übertragen hätten. Das war nicht der Fall. Der Mensch hingegen lernt sogar von seinem Feind. Ein Beispiel: Die einheimische Bevölkerung Amerikas hat nach der Ankunft der Europäer sehr wohl erlernt, Feuerwaffen zu verwenden. Natürlich gibt es kulturelle Unterschiede. Aber es gibt auch ein biologisches Gerüst, das notwendig ist, um diese Kultur aufzunehmen.

Und dieses Gerüst wollen sie mit Hilfe der Mini-Hirne sichtbar machen?

Das wäre das Idealziel für unser Forschungsprojekt. Ich würde sagen: für die nächsten zehn Jahre.

Der US-amerikanische Genetiker George Church plant einen „Mammufanten“, also einen Elefanten mit Mammut-Genen zu züchten. Ist das realistisch?

Es wäre vorstellbar, einen Elefanten genetisch an ein paar Stellen so zu verändern, sodass er Haare hat und ein bisschen wie ein Mammut aussieht. Das wäre wohl eine Art Maskerade. Aber ich weiß nicht, warum man das machen sollte. Und wenn man bedenkt, was für eine Generationszeit Elefanten haben, wird das wohl in nächster Zeit auch nicht gelingen.

Paläogenetiker Svante Pääbo am Rednerpult

ÖAW/Daniel Hinterramskogler

Svante Pääbo bei einem Vortrag an der Akademie der Wissenschaften in Wien

Eine noch extremere Vorstellung: Wäre es technisch - wohlgemerkt nicht ethisch - machbar, einen Neandertaler zu züchten?

Nein. Wenn wir sagen, das gesamte Neandertaler-Genom ist sequenziert, dann ist das eine Wahrheit mit Modifikationen. Wenn wir ein Genom untersuchen, dann sequenzieren wir im Grunde nur jene Teile, die darin einmal vorkommen. Das sind etwa zwei Drittel des Erbguts. Der Rest des Genoms besteht aus Stücken, von denen es zwei oder mehr Kopien gibt. Von diesem repetitiven Teil kennen wir die genaue Abfolge nicht, weil die DNA-Bruchstücke zu kurz sind. Aber dieser Teil ist auch funktionell wichtig. Wir werden das Neandertaler-Genom nie so genau kennen. Man könnte sich vorstellen, die bekannten Veränderungen im nicht-repetitiven Teil - das sind etwa 39.000 - in eine Stammzelle einzufügen. Das ist heute unmöglich, technisch wird es vielleicht einmal machbar sein. Aber ethisch natürlich nicht: Wir wollen doch keinen Menschen aus purer wissenschaftlicher Neugier erzeugen.

Ihr Vater erhielt 1982 den Medizin-Nobelpreis. Werden Sie einmal in seine Fußstapfen treten?

Ich habe ursprünglich Ägyptologie und Archäologie studiert und bin erst durch die Hintertür zur Biologie gelangt. Mein Vater war ein Hardcore-Biochemiker. Davon abgesehen: Evolution ist ja nicht so das Hauptthema beim Nobelpreis.

Interview: Robert Czepel, science.ORF.at

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