Der Fenstersturz aus Prager Perspektive

Der Prager Fenstersturz vor genau 400 Jahren, Auslöser des Dreißigjährigen Krieges, ist zentral für Europas Geschichte. Die Erinnerung daran ist für kein Land so wichtig wie für Tschechien, auch wenn die Bedeutung schwindet.

Als sich 1918 der Zweite Prager Fenstersturz zum 300. Mal jährte, kämpfte man im Königreich Böhmen gerade für eine unabhängige Republik. „Das Jubiläum war ein wichtiges Symbol im Kampf des Republikanismus gegen den Monarchismus“, sagt der tschechische Historiker Tomáš Knoz von der Masaryk-Universität Brünn. Diese Interpretation bot sich natürlich an: Protestanten der Böhmischen Stände warfen am 23. Mai 1618 drei Vertreter der katholischen Monarchie aus dem Fenster der Prager Burg.

Zeitalter der „Finsternis“

Die Auseinandersetzung spitzte sich zu und führte zur Schlacht am Weißen Berg 1620 und der Hinrichtung der Aufständischen in Prag 1621. „Diese drei Ereignisse gehören zu den wichtigsten Momenten im modernen Geschichtsdenken in Tschechien. Auch heute identifizieren sich die meisten Tschechen mit der protestantischen Seite“, sagt Knoz. Viele Studierende sagen zu dem Geschichtsprofessor: „Wir haben am Weißen Berg verloren.“ Er fragt darauf: „Welche Seite waren wir?“ Damit möchte er provozieren und klarstellen: Tschechen kämpften auf beiden Seiten der Front.

Dennoch wird die Schlacht am Weißen Berg seit dem 19. Jahrhundert als nationale Niederlage interpretiert. „Für die Bildung des modernen tschechischen Nationaldenkens waren die Geschichtsinterpretationen des Schriftstellers Alois Jirásek und des Historikers Zdeněk Nejedlý zentral“, erklärt Knoz. Jiráseks Roman „Temno“ (Finsternis) prägte die Vorstellung einer 1618 beginnenden dunklen Epoche der Unterdrückung, aus der sich die tschechische Nation erst 1918 befreien sollte.

Darstellung der politischen Situation in und um Böhmen nach der Schlacht am Weißen Berg (1620).

ÖNB

Darstellung der politischen Situation in und um Böhmen nach der Schlacht am Weißen Berg (1620). Der siegreiche Adler mit Zepter und der Krone der Böhmischen Länder auf dem begehrten Ziel, dem Säulenkapitell.

Klassenkampftheorie in den 50er Jahren

Als der 300. Jahrestag des Endes des Dreißigjährigen Krieges gefeiert wurde, also 1948, war die Interpretation eine andere, sagt Knoz: „Zu Beginn des Kommunismus war man bemüht, den Aufstand der Böhmischen Stände mit der Klassenkampftheorie in Einklang zu bringen. In den Schulbüchern der 1950er Jahre etwa wird er als ein Aufstand beschrieben, der zum Scheitern verurteilt ist: Die Adeligen als Vertreter der feudalen Klasse konnten nicht gegen die Habsburger gewinnen, weil sie das arbeitende Volk nicht miteinbezogen hatten.“

Sendungshinweise

Dem Thema widmet sich auch ein Beitrag in Wissen aktuell in Ö1, 23.5., 13.55 Uhr. Universum History zeigt die Spieldokumentation „Apokalypse 1618 - Die Schrecken des Dreißigjährigen Krieges“ in ORF2, 25.5., 22.30 Uhr.

Geändert hat sich das mit der Wende 1989, die eine kritische Auseinandersetzung sowohl mit der nationalen als auch mit der realsozialistischen Interpretation nach sich zog. „Heute ist die Erinnerung an den Prager Fenstersturz gewissermaßen zu leer, um sie politisch zu nutzen. In der heutigen Welt sind die konfessionellen Differenzen der frühen Neuzeit irrelevant geworden“, sagt der Historiker.

Tschechische Tradition und toter Erinnerungsort

Im kollektiven Gedächtnis der Tschechen sind die Ereignisse dennoch präsent, das zeigt sich etwa dann, wenn in der Populärkultur darauf Bezug genommen wird. „Die Ereignisse dienen als Vorlage für Spielfilme, in denen es aber um persönliche Tragödien der einzelnen Personen geht, fast ohne politisch-konfessionellen Kontext“, sagt Knoz. Und in einer Werbung einer tschechischen Kaffeemarke etwa werden Fensterstürze humoristisch als tschechische Tradition bezeichnet.

Für Schüler und Studenten ist der Prager Fenstersturz interessant, sagt Knoz, weil es sich um eine „Aktionsszene“ handelt. In der Geschichtsvermittlung versucht man sich heute auf die Relevanz des Fenstersturzes für die europäische Geschichte zu konzentrieren. „Die böhmische und tschechische Geschichte ist Teil der gesamteuropäischen Geschichte. Die großen Ereignisse des Dreißigjährigen Krieges beginnen 1618 in Prag und sie enden auch in Prag: im Jahre 1648 mit der schwedischen Belagerung.“

Der Zweite Prager Fenstersturz markiert einen historischen Wendepunkt, der nach der traditionellen Interpretation das absolutistische Zeitalter einläutet, sagt Knoz. Für den Historiker ist er in seiner Bedeutung mit dem Sturm auf die Bastille 1789 und dem Beginn der Französischen Revolution vergleichbar. „Diese große Tradition der Erinnerung, wie sie in Paris etwa mit Militärparaden zelebriert wird, gibt es in Prag aber nicht, es ist als Erinnerungsort eher tot.“

Katharina Gruber, Ö1-Wissenschaft

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