Über das Erfinden einer Philosophie

Subjekt - Objekt, Sprache - Wirklichkeit, Aussage und Gegenstand: In der Philosophie regieren die Gegensätze. Der österreichische Philosoph Josef Mitterer hat dem einen anderen, neuen Denkstil entgegengesetzt. Am 8. Juli wird der Erfinder der „Ausführungszeichen“ 70 Jahre alt.

Noch vor 20 Jahren führte sie ein Nischendasein. In den vergangenen Jahren wurde sie zunehmend populär: die nicht dualisierende Philosophie des österreichischen Erkenntnistheoretikers Josef Mitterer. Seine Bücher „Das Jenseits der Philosophie“ und „Die Flucht aus der Beliebigkeit“ wurden beim deutschen Verlag Velbrück Wissenschaft neu aufgelegt. 2015 widmeten sich erstmals zahlreiche Philosophen und Philosophinnen beim Internationalen Wittgenstein-Symposium in Kirchberg der Philosophie Mitterers. In jüngster Zeit macht Mitterers Denken sogar in der Geographie und in der Informatik die Runde.

Porträtfoto von Stefan Weber

Anne Kaiser

Über den Autor

Stefan Weber ist Privatdozent und Lehrbeauftragter an der Universität Wien. 2005 Habilitationsschrift über Josef Mitterer. Weber ist vor allem als Plagiatsgutachter bekanntgeworden. Sein nächstes Buch erscheint im Herbst 2018 mit dem Titel „Roboterjournalismus, Chatbots & Co. – Wie Algorithmen Inhalte produzieren und unser Denken beeinflussen“ in der Reihe „Telepolis“.

Josef Mitterer, mittlerweile pensionierter Professor der Universität Klagenfurt, wird am 8. Juli 70 Jahre alt. Der „überraschende Philosoph“ – so Peter Strasser in einer Rezension – ist umtriebig wie eh und je, schreibt Aufsätze, koorganisiert Konferenzen, koverwaltet das Ernst-von-Glasersfeld-Archiv in Innsbruck und sorgt für eine kritische Stimme gegen Rechtspopulismen, wann immer sonst niemand seine Stimme erhebt.

Ein neuer Denkweg?

Es passiert nicht alle Tage, dass ein Philosoph von sich behauptet, „einen neuen Denkweg“ er-/gefunden zu haben. Josef Mitterer sagt ebendies über „seine“ Philosophie im Nachwort zur Neuausgabe seines Hauptwerks „Das Jenseits der Philosophie“ (2011). Doch worum geht es nun in der „Nicht-dualisierenden Redeweise“ oder kurz im „Non-Dualismus“? Mit buddhistischer Philosophie oder Esoterik hat Mitterers Denken jedenfalls nichts zu tun. Vielmehr geht es ihm darum, die Wahrheitskonzeption von Alfred Tarski und den Kritischen Rationalismus von Karl Popper im Kern anzugreifen.

Vor Jahrhunderten haben Wissenschaftler die (doppelten) Anführungszeichen erfunden. Seit ungefähr einem Jahrhundert werden diese in der Philosophie dazu verwendet, um Metasprache und Objektsprache zu unterscheiden (andere Disziplinen notieren anders). Wir können also entweder über das Wort „Apfel“ reden oder über den Apfel, in den wir beißen können. Mitterer ergänzt diese Unterscheidung nun um eine weitere Notation, um die Ausführungszeichen. Die Markierung sieht so aus: /…/. Damit werden die bereits ausgeführten Beschreibungen gekennzeichnet. Mitterer ersetzt das „Reden über“ durch eine neue Denkbewegung. Er schreibt:

„Eines Tages hatte ich die Idee, das Reden über einen Gegenstand als Reden über die schon gemachte Rede /Gegenstand/ hinaus, die Beschreibung eines Tisches als Fortsetzung der Beschreibung so far /Tisch/ zu verstehen ... Diese Idee öffnete einen neuen Denkweg, in den ich mich langsam einübte. Es war die Einübung in ein Nicht-dualisierendes Denken und Reden. Statt wie gewohnt ein ‚über‘ auf ein ‚unter‘ zu beziehen, versuchte ich das Verhältnis zwischen Objekt und Beschreibung, zwischen Gegenstand und Aussage als ein Verhältnis einer Beschreibung/Aussage ‚bis jetzt‘ und ‚von nun an‘, also von so far und from now on auszuarbeiten.“ (2011, Nachwort zu „Das Jenseits der Philosophie“)

Für Mitterer sind Wissenschaft und Erkenntnis somit keine Annäherung an die Wirklichkeit und auch kein mögliches Scheitern an der Realität, sondern die stetige Fortsetzung von Beschreibungen, auf Basis der bereits ausgeführten Beschreibungen.

Porträtfoto von Josef Mitterer

Privat

Josef Mitterer

„Paradoxien des Neuen“

In einem Aufsatz aus dem Jahr 2014 untersucht Mitterer den Wandel von wissenschaftlichen Auffassungen. Wie wird eine bisherige Wahrheit zur bloßen (nunmehr falschen) Annahme, und wie setzt sich Neues durch? Dabei reflektiert er Beispiele wie die folgenden:

„Neue Studie: Der Rhein ist älter als angenommen.“

„HIV-Vorläufer ist älter als angenommen.“

„Fukushima-Reaktor schwerer beschädigt als angenommen.“

„Madrid ist 300 Jahre älter als angenommen.“

„Stonehenge ist jünger als angenommen.“

„Pandemie-Impfstoff gegen die Schweinegrippe wirkungsvoller als angenommen.“

Den neuen Erkenntnissen gehen jedoch nicht nur Annahmen voraus, sondern auch Gedanken und Vermutungen: „Die Pinguinpopulation in der Antarktis ist größer als bisher vermutet.“; „Stonehenge älter als gedacht.“; oder: „Die Zahl der Diabetiker wächst stärker als gedacht.“; „Das Gehirn reinigt sich schneller als geglaubt.“; „Die Sonne fliegt langsamer durch den Weltraum als gedacht.“; „Klimawandel: Grönlands Gletscher schmelzen anders als gedacht.“ (2014, Aufsatz „Paradoxien des Neuen. Zum Stand der Dinge im Fluss“, in: Fischer, Hans Rudi Hg.: Wie kommt Neues in die Welt?)

In Mitterers Philosophie gibt es keine Sicherheit, dass der letzte Stand der Dinge mit der Wirklichkeit übereinstimmt. Es handelt sich schlichtweg um jene Auffassungen, die derzeit vertreten werden. Das zeigt sich genau an der Ablöse von Thesen: Thesen scheitern nicht an der Realität, sondern an neuen, jüngeren Thesen, die nunmehr für ‚wahr‘ gehalten werden.

Wie das Lügner-Paradoxon konstruiert wird

Eine Einführung in Mitterers Philosophie bietet auch ein 30-minütiges Video auf YouTube. Bei einem Symposium in Klagenfurt wandte Mitterer sein non-dualistisches Denken auf den verstärkten Lügner an, der sich in Sätzen wie „Dieser Satz ist nicht wahr.“, „Dieser Satz ist falsch.“ oder „Ich lüge jetzt.“ äußert. Mitterer will das Paradoxon, mit dem sich die Philosophie seit Jahrhunderten herumschlägt, nicht auflösen, sondern untersuchen, wie es konstruiert wurde. Dabei verwendet er eine markante Analogie:

Nehmen wir an, auf einem Blatt Papier steht der Satz: „Dieser Satz, der sich auf einem Blatt Papier befindet, das gerade 50 cm oberhalb dieses Fußbodens schwebt, ist falsch.“ Dieses Lügner-Paradoxon würde nur für einen sehr kurzen Moment gelten, wenn man das Blatt z. B. aus einem Meter Höhe zu Boden gleiten lässt. So verhält es sich Mitterer zufolge auch mit dem Lügner-Paradoxon: Der Selbstbezug ist von uns konstruiert worden. Die Arbeit Mitterers zum Lügner-Paradoxon ist noch nicht publiziert , wie auch das seit Langem angekündigte dritte Buch mit dem Titel „Die Richtung des Denkens“.

Weiterführende Lektüre: