Frühkindliche Erinnerungen sind oft fiktiv

Knapp 40 Prozent der Erwachsenen können sich laut einer britischen Befragung an Erlebnisse aus den ersten beiden Lebensjahren erinnern. Das Problem dabei: Das ist gar nicht möglich.

Eigentlich wollte das Psychologen-Team von der City University of London erforschen, was erste Erinnerungen aus der Kindheit typischerweise charakterisiert. Dazu sollten die 6.641 Studienteilnehmer ihre erste Erinnerung detailliert schildern und angeben, wie alt sie zum Zeitpunkt des beschriebenen Erlebnisses waren.

Das Ergebnis war für die Forscher überraschend: Fast 40 Prozent der Befragten schilderten Ereignisse, die vor ihrem zweiten Geburtstag stattgefunden hatten - beziehungsweise hätten: Denn nach dem aktuellen Stand der Forschung ist es nicht möglich, sich als Erwachsener an so frühe Ereignisse zu erinnern. Die Autoren gehen davon aus, dass es sich bei den Erzählungen um „fictional memories“, also fiktive Erinnerungen handelt.

„Mentale Vorstellungen“

„Typischerweise entstehen die ersten Erinnerungen im Alter von etwa drei Jahren“, so Shazia Akhtar, die Hauptautorin der Studie. Bei besonderen Ereignissen, etwa der Geburt kleinerer Geschwister, könne es sein, dass Erinnerungen bereits im Alter von rund zwei Jahren entstehen. Davor sei das Gedächtnis aber noch nicht so weit entwickelt, dass es bleibende Erinnerungen bilden könne. „Sich an Erlebnisse im Alter von zwölf oder 18 Monaten zu erinnern, ist schlicht unmöglich“, so die Psychologin.

Studie

„Fictional First Memories“, Psychological Science (17.7.2018).

Dass 38,6 Prozent der Befragten behaupten, sich an ihre ersten beiden Lebensjahre erinnern zu können und sogar 893 Personen von Erinnerungen bis zu ihrem ersten Lebensjahr berichteten, warf für die Forscher nun die Frage auf, wie diese vermeintlichen Erinnerungen zustande kommen.

Akhtar und ihr Team vermuten, dass sich dabei zwei Komponenten vermengen: erstens Fragmente von eigenen, frühesten Erinnerungen; und zweitens das Wissen über die ersten Lebensjahre, das man später aus Erzählungen von Verwandten oder aus Fotoalben erlange. Aus diesen beiden Quellen könnten „mentale Vorstellungen“ entstehen, die sich wie Erinnerungen anfühlen, schreiben die Forscher im Journal Psychological Science.

Fiktiv, aber nicht eingebildet

Ein typisches Beispiel für eine fiktive Erinnerung aus der Befragung sei etwa, wenn sich jemand daran erinnert, im Kinderwagen gelegen zu haben, so die Forscher. So eine Erinnerung könne dann entstehen, wenn etwa die Mutter erzählt, sie habe das Kind immer in einem grünen Kinderwagen spazieren gefahren. Wenn sich die betreffende Person dann diese Situation vorstellt, entstehe der Eindruck einer Erinnerung, so die Psychologen.

Den Begriff der “fictional memories“ haben die Autoren bewusst gewählt. Als falsch oder eingebildet würden sie die Erinnerungen nur ungern bezeichnen. Denn wie frühere Studien zeigen, seien auch die Erinnerungen an die Kindheit - ob fiktiv oder nicht - Teil der eigenen Lebensgeschichte und damit wichtig für ein konsistentes Selbstbild.

Julia Geistberger, science.ORF.at

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