Neuartiges Archiv für Holocaust-Filme

Fast jeder kennt die erschütternden Bilder befreiter Konzentrationslager. Historiker wollen nun erstmals alle Filmaufnahmen des Holocaust sammeln und exakt recherchieren, was und zum Teil auch wer darin zu sehen ist.

Zusammen mit dazugehörigen Dokumenten, Tagebucheinträgen, Notizen und Interviews soll so ab 2019 ein umfassendes digitales Archiv entstehen.

Bilder gingen um die Welt

Die meisten Aufnahmen, die den Holocaust dokumentieren, entstanden im Jahr 1945 in der Endphase des Zweiten Weltkrieges. Aufgenommen wurden sie von US-amerikanischen sowie russischen Soldaten und Kameraleuten. Sie zeigen Konzentrationslager, die von den Nazis bereits befreit waren. Abgemagerte Menschen, die aus den Lagern getragen und erstversorgt wurden. Knochenreste von jenen, die zuvor noch bei lebendigem Leib verbrannt wurden. Leichen, die sich in Zugwaggons vor den Lagern stapelten. Und andere Stätten nationalsozialistischer Verbrechen. Viele der Bilder gingen um die Welt.

Das Projekt

„Visual History of the Holocaust: Rethinking Curation in the Digital Age“ startet am 1.1.2019. Das Team besteht aus 13 österreichischen, deutschen, israelischen und französischen Gedenkstätten, Forschungseinrichtungen, Museen, und Technologieentwicklern. Neben dem Ludwig Boltzmann Institut für Geschichte und Gesellschaft ist auch das Österreichische Filmmuseum zentral an dem Projekt (Budget: knapp fünf Mio. Euro) beteiligt.

„Einerseits gibt es einen Mangel an Bildern über den Holocaust und andererseits aber eine Reihe von Bildern, die in verschiedenster Form immer wiederkehren“, erklärt der Projektkoordinator Ingo Zechner vom Ludwig Boltzmann Institut für Geschichte und Gesellschaft. Etwa in Dokumentarfilmen wie „Death Mills“, mit dem die deutsche Bevölkerung aufgeklärt und umerzogen werden sollte oder in Nachrichtenfilmen, die 1945 dem US-Publikum gezeigt wurden. Das Problem: „Wenn man die Aufnahmen selbst sieht, weiß man nicht einmal, wo sie stattfinden, wann sie stattfinden und mit wem“, so Zechner.

Ein Kameramann des U.S. Army Signal Corps in Deutschland, März/April 1945.

National Archives and Records Administration (NARA), 111-ADC-4648, 35mm s/w.

Ein Kameramann des U.S. Army Signal Corps in Deutschland, März/April 1945

Auch bisher unveröffentlichtes Material

Der Historiker und sein Team aus europäischen Historikerinnen und Computerwissenschaftlern wollen nun in den nächsten vier Jahren die Aufnahmen sowie bisher unveröffentlichtes Bildmaterial, das etwa aus den Privataufnahmen des späteren US-Filmregisseurs George Stevens stammt oder von russischen Militärs aufgenommen wurde, in den richtigen Kontext bringen und miteinander verknüpfen.

Dazu sammeln sie aus den Archiven in den USA, ehemaligen sowjetischen Staaten und Großbritannien auch Tagebucheinträge, Notizen und sonstige Dokumente, die mehr über die Bilder und Filme erklären. Sofern vorhanden, sollen auch in den Jahren nach dem Krieg geführte Interviews mit den Kameramännern sowie den Überlebenden, die auf den Aufnahmen zu sehen sind, erfasst werden.

„Uns geht es in dem Projekt vor allem darum, die übliche Praxis einer illustrierenden Verwendung von Bildern zu durchbrechen und die Forschungsarbeit zu leisten, um sicherzustellen, dass man nicht nur weiß, wann und wo die Bilder entstanden sind, sondern was in ihnen tatsächlich zu sehen ist.“

Ein Kameramann des U.S. Army Signal Corps in Dachau, Mai 1945

Library of Congress, George Stevens, Liberation at Dachau (2. bis 7. Mai 1945)

Ein Kameramann des U.S. Army Signal Corps in Dachau, Mai 1945

Digitalisierung als neuen Standard

Das eigentliche Ziel und zugleich die Herausforderung des Projektes ist es aber, die alten Aufnahmen und Dokumente zu digitalisieren. „Beim Digitalisieren passiert es etwa üblicherweise, dass die Bildränder abgeschnitten werden, die aber oft Schlüsselinformationen beinhalten können. Das wollen wir vermeiden. Man muss auch darauf achten, dass die Informationen, die sich auf der Filmrolle selbst befinden und zum Teil auch Datierungen ermöglichen, mitdokumentiert werden“, erklärt Zechner, der mit dem Projekt letztlich neue Maßstäbe für das digitale Kuratieren historischer Dokumente setzen will.

Ö1-Sendungshinweis

Diesem Thema widmet sich auch ein Beitrag in Wissen aktuell: am 2.8. um 13:55 Uhr.

Auf diese Weise soll es letztlich möglich sein, die umfassenden Materialien auf einer aufwendigen Homepage interaktiv zu verbinden. Hier kann man sich künftig nicht nur die Filme ansehen, sondern sieht gleichzeitig die zur jeweiligen Szene gehörenden Informationen und Dokumente. „Die Infos und zusätzlichen Materialien wechseln dann automatisch, wenn sich die Szene ändert“, erklärt Zechner die Idee, die vom Prinzip der Filmuntertitel inspiriert ist. Abgesehen davon soll man gezielt nach Orten und Begriffen suchen und alle relevanten Aufnahmen und Materialien ansehen können.

Digitaler „Rundgang“ in Gedenkstätten

Gemeinsam mit den Gedenkstätten Mauthausen, Dachau und Bergen-Belsen will der Historiker zudem die Aufnahmen aus den ehemaligen Konzentrationslagern aktiv mit dem Schauplatz verknüpfen. Die Idee: "Man bewegt sich durch den Raum und hat an Stätten, die heute nur noch architektonische Reste oder nicht einmal mehr das zeigen, die Möglichkeit, sich die Filmaufnahmen von genau diesem Ort und die begleitenden Dokumente anzusehen.“

Dass die digital für jedermann leicht zugänglichen Aufnahmen und Kopien manipuliert und missbraucht werden könnten, ist den Forschern bewusst. „Wir werden niemanden verbieten, die Bilder zu verwenden. Wir wollen das Bewusstsein dafür schaffen, dass Bilder illustrierend verwendet werden. Menschen sollen aber die Möglichkeit haben, nachzusehen und zu recherchieren, was wirklich auf den Bilder zu sehen ist.“ Abgesehen von den Bürgern soll das Archiv auch der Forschung zur Verfügung stehen.

Ruth Hutsteiner, Ö1-Wissenschaft

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