Weniger radikal nach der Haft

Haftanstalten sind heute oft Rekrutierungsorte von Terroristen. Vor 20 Jahren gab es ein Gegenbeispiel: die Deradikalisierung paramilitärischer Aktivisten in Nordirland. Wie das funktioniert hat, beschreibt der Historiker Dieter Reinisch in einem Gastbeitrag.

Am 29. Mai erschoss der Freigänger Benjamin H. vier Menschen im belgischen Lüttich. Er war als gewöhnlicher Krimineller für Raub und Drogenbesitz verurteilt worden, doch „es gibt Gründe, die daran denken lassen, dass es sich um einen Terroranschlag handeln könnte“, so der Sprecher der Sprecher der Bundesstaatsanwalt Eric Van der Sijpt.

Dieter Reinsch

Privat

Über den Autor

Dieter Reinisch ist Historiker am Europäischen Hochschulinstitut in Florenz und Redaktionsmitglied der Fachzeitschrift „Studi irlandesi“ (Universitätsverlag Florenz). Er unterrichtet an den Universitäten Wien und Salzburg. Zuletzt erschienen: „Die Frauen der IRA“ (2017, Promedia Verlag) und Beitrag im Sammelband „Sport under Unexpected Circumstances“ (2018, Vandenhoeck & Ruprecht). Twitter: @ReinischDieter

Benjamin H. ist keine Ausnahme. Medien berichten regelmäßig von jungen Männern, die als Kleinkriminelle in westeuropäischen Gefängnissen enden, sich dort radikalisieren und nach ihren Haftentlassungen Terroranschläge im Namen des IS verüben.

Brutstätten des Terrorismus?

Sind also europäische Haftanstalten Brutstätten des Terrorismus? Historisch betrachtet nicht, denn noch vor zwei Jahrzehnten konnte ein gegenteiliger Prozess beobachtet werden. In britischen und irischen Hochsicherheitsgefängnissen wurden IRA-Mitglieder zu Unterstützern des nordirischen Friedensprozesses.

Der französische Philosoph Michel Foucault verstand Gefangene als „marginalisierte Gruppe“, die durch die Hafterfahrung zu gefügigen Mitgliedern der Gesellschaft werden sollten. Die republikanischen Gefangenen in Nordirland waren eine der treibenden Kräfte des Friedensprozesses – anstatt marginalisiert am Rande der Gesellschaft zu stehen, beeinflussten sie politische Prozesse außerhalb der Haftanstalten.

Interview mit ehemaligen IRA-Gefangenen

Dadurch unterscheiden sich die nordirischen Haftanstalten der 1980er und 1990er Jahre grundlegend von europäischen Gefängnissen als Rekrutierungsfelder für radikal-islamistische Gruppierungen der letzten Jahre. Um dies zu verstehen interviewte ich in den Jahren 2014 bis 2017 34 ehemalige Gefangene, die Mitglieder irisch-republikanischer Paramilitär-Fraktionen waren.

Die größte und bekannteste war die Provisional IRA. Sie gründete sich 1969 aus einer Spaltung der IRA und verkündete 2005 ihre Entwaffnung. Neben Mitgliedern der IRA sprach ich mit Mitgliedern kleinerer Organisationen wir die Irische Republikanische Befreiungsarmee (INLA), Official IRA, Real IRA, Continuity IRA und Óglaigh na hÉireann. Alle Interviewpartner waren zwischen den Jahren 1971 und 2000 in der Republik Irland oder Nordirland in Internierungslagern bzw. Hochsicherheitsgefängnissen inhaftiert gewesen.

Die britische Armee errichtet in Belfast am 10. September 1969 einen Stacheldrahtzaun zwischen der römisch-katholischen und der protestantischen Seite.

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Die britische Armee errichtet in Belfast im September 1969 einen Stacheldrahtzaun zwischen katholischer und protestantischer Seite

Die Mehrheit dieser Gefangenen waren noch Minderjährige ohne abgeschlossene Schulbildung, als sie erstmals verhaftet wurden. Diese jungen Männer schlossen sich republikanischen Gruppen an, bekamen in den Wirren des Bürgerkriegs aber keine politische Ausbildung. So forderten sie zwar als „politische Gefangene“ anerkannt zu werden, ihre ersten politischen Schriften lasen sie aber erst in Haft.

Der ehemalige Gefangene und spätere Sinn-Féin-Politiker Jim Gibney erzählt: „Ich war 17, als ich 1971 zu meiner zweiten Osterkundgebung [in Erinnerung des Dubliner Aufstandes von 1916] ging. Ich erinnere mich, dass es dort Randale gab, die IRA war dort und ich trug einen Anstecker des irische republikanischen Sozialisten James Connolly – so als wäre dies ein Modeaccessoire zu meinen Wranglers. Erst später, in Haft, lernte ich über Connolly.“

In den Internierungslagern hatten die Republikaner Zugang zu Schriften von Nelson Mandela, Che Guevara und der US-Bürgerrechtsbewegung. Später begannen sie in den Hochsicherheitsgefängnissen auch Bücher zu lesen und etablierten so im größten Gefängnis, HMP Maze, über die Jahre eine eigene Gefängnisbibliothek mit über 15.000 Büchern.

Selbstbildung und Friedensprozess

Nachdem die Gefangenen das Buch des brasilianischen Pädagogen Paolo Freire „Pädagogie der Unterdrückten“ lasen, bildeten sie Lesekreise und etablierten schrittweise ein eigenes Schulungsprogramm.

Es war diese selbstorganisierte Bildung, die den Republikanern Alternativen zum bewaffneten Kampf entwickeln ließ. Aufgrund des neu entwickelten Interesses an Wissen begannen viele Gefangen auch zu schreiben. Ihre Schriften verfassten sie auf Zigarettenpapier. Diese Botschaften wurden aus den Haftanstalten geschmuggelt, publiziert und errangen großen Einfluss auf die politischen Positionen der Bewegung außerhalb der Gefängnismauern. Dadurch wurden die Gefangenen zu einer der treibenden Kräfte des Friedensprozesses in den 1990er Jahren.

Das Maze-Gefängnis 1971

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Das Maze-Gefängnis 1971

Vom Nordirlandkonflikt zur Radikalisierungsprävention?

Drei zentrale Punkte können aus der Fallstudie Nordirland gelernt werden. Erstens, Gefangene haben ein Interesse sich in Haft positiv zu entwickeln, wenn, zweitens, ein liberales Gefängnisregime besteht und, drittens, die Gefangenen ungehinderten Zugang zu Büchern und anderem Lernmaterial haben. Das Lesen von politischer, mitunter auch radikaler Literatur führt nicht zu einer weiteren Radikalisierung, sondern zu einem größeren Selbstverständnis als Gefangene. Dies wiederum führt zu einem Selbstfindungsprozess, durch den Gefangene aktive Akteure in Konflikttransformationsprozessen, wie Friedensprozessen, werden können.

Nordirland ist kein Einzelfall. In den letzten Jahrzehnten waren politische Gefangene des Öfteren Vordenker für politischen Wandel, der zu Friedensprozessen führte. Der südafrikanische Friedensnobelpreisträger Nelson Mandela, der ETA-Führer Arnaldo Otegi oder PKK-Führer Abdullah Öcalan sind die bekanntesten Beispiele.

Aktuelle Studien aus den USA, wie „Liberating Minds: The Case for College in Prison“ von Ellen Condliffe Lagemann (New Press, 2017), zeigen, dass auch kriminelle Gefangene ein Interesse haben, ihre Zeit in Haft produktiv zu nutzen. Dies geschieht jedoch nur, wenn Gefangene nicht marginalisiert werden, sondern auch in Haft als vollwertige Mitglieder der Gesellschaft anerkannt werden. Außerdem müssen Gefangenen die Ressourcen zur Verfügung gestellt werden, ihre Zeit produktiv nützen zu können. Auch hier ist eine liberale Gefängnisführung dafür Grundbedingung.

Bombenanschlag im August 1989 in Omagh, Nordirland mit 29 Toten

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Bombenanschlag im August 1998 in Omagh, Nordirland mit 29 Toten

In vielen westeuropäischen Ländern wurden Haftanstalten zu wichtigen Rekrutierungsfeldern für radikal-islamistische Gruppen. Die Frage ist nicht ausschließlich, wie Islamisten sich in Haft deradikalisieren, sondern wie inhaftierte Kleinkriminelle muslimischen Glaubens nicht in die Fänge radikaler Islamisten fallen.

Terrorismusforscher Joshua Sinai untersuchte anhand des US-Gefängnissystems, wieso viele spätere Terroristen ihre Extremismuslaufbahnen in Haft begannen. Der Beitrag erschien in einem Band von Andrew Silke von der University East London zum Thema „Prisons, Terrorism and Extremism“ (Routledge, 2014; Buch-Vorschau). Wie Sinai untersuchen auch die anderen Texte entweder Radikalisierung oder Deradikalisierung in Haft. Die Forschung, wie Haftanstalten ihre Rolle als Rekrutierungsfelder für Extremisten verlieren können, ist dagegen noch wenig fortgeschritten.

Meine historische Fallstudie zum Nordirlandkonflikt soll hier Ansatzpunkte für eine komparative Studie bieten und somit die Frage beantworten, wie es möglich ist, dass inhaftierte Kleinkriminelle ihre Hafterfahrung positiv nutzen, und dies später der Gesellschaft zur Verfügung stellen – genauso wie es die irisch-republikanischen Gefangenen gemacht haben. Auf diese Weise würde ein zentrales Rekrutierungsfeld für radikale Islamisten in Westeuropa wegfallen.

Artikel von Dieter Reinisch zu diesem Thema:

Hintergrund

Nordirlandkonflikt: Ende der 1960er Jahre bildete sich in Nordirland eine friedliche Bürgerrechtsproteste gegen die Diskriminierung der katholischen Bevölkerungsminderheit. Als Reaktion dagegen gründeten radikale Protestanten paramilitärische Organisationen und griffen die Proteste an. Es wurde eine Gewaltspirale in Kraft gesetzt, die auch die Entsendung der britischen Armee nach Nordirland im Sommer 1969 nicht stoppen konnte. Dies war der Beginn des Nordirlandkonflikts. 1998 wurde ein Friedensvertrag unterzeichnet, doch dieser konnte den Konflikt nicht gänzlich beenden. In den letzten 50 Jahren starben über 4.000 Menschen an den direkten Folgen des Konflikts.

Gefangene während des Konflikts: Im Sommer 1971 wurde mit der Internierung von politischen Aktivisten begonnen. Die Internierungspolitik blieb bis 1976 aufrecht, danach wurden Verurteilte in Hochsicherheitsgefängnisse gebracht. Genossen die Internierten noch mehrere Privilegien, verloren die Häftlinge in den Gefängnissen diesen Sonderstatus. Dagegen protestierten die IRA-Gefangenen, was zum Tod von zehn Hungerstreikenden 1981 führte. Erst danach wurden die Privilegien wieder schrittweise eingeführt. Das größte Hochsicherheitsgefängnis in Nordirland, HMP Maze mit seinen berüchtigten H-Blocks wurde 2000 geschlossen. Nach Schätzungen wurden in den drei Jahrzehnten bis zu 20.000 Menschen, sowohl katholische Republikaner, als auch protestantische Loyalisten in Internierungslagern oder Gefängnissen festgehalten. Auch heute befinden sich noch rund 70 Republikaner, die den Friedensprozess ablehnen, in den Hochsicherheitsgefängnissen Maghaberry (Nordirland) und Portlaoise (Republik Irland).