In 90 Sekunden zum Unfallort

Was tun, wenn die Rettung im Stau steckenbleibt? Freiwillige Helfer in Israel zeigen, wie sich das Problem lösen lässt: Sie eilen mit dem Motorrad zum Unfallort - und gewinnen dadurch lebenswichtige Minuten.

Rettungseinsätze in Israel werden hierzulande über die Medien vorwiegend im Rahmen von kriegerischen Auseinandersetzungen, grenznahen gewaltvollen Konflikten oder Terroranschlägen wahrgenommen. Dabei haben die medizinischen Kräfte auch und vor allem mit ganz alltäglichen Problemen zu kämpfen.

Denn gerade rund um Tel Aviv oder Jerusalem gehören Stau und Verkehrschaos dazu. Im überaus dichten Straßenverkehr gibt es für Rettungsfahrzeuge kaum ein Durchkommen. Ein Problem, das auch in Österreich bekannt ist und die Hilfe verzögert. Selbst im gut versorgten Wien benötigt die Rettung rund acht bis zehn Minuten zum Einsatzort.

Illegale Anfänge

„Menschen sterben, weil die Rettung im Stau steckenbleibt, der Notarzt zu spät kommt“, erklärt Eli Beer, der 2006 die Organisation United Hatzalah („vereinigte Hilfe“) als zusätzlichen Dienst zum staatlichen Rettungswesen ins Leben gerufen hat. Die Idee war, ein landesweites First-Responder-System zu etablieren, sodass Ersthelfer auf hohem Niveau lebenserhaltende Maßnahmen durchführen, bis die Rettung eintrifft.

Mitarbeiter von United Hatzalah in orangefarbiger Warnweste

Ronny Tekal/ORF

Raphael Poch, der Sprecher von United Hatzalah

Selbst ehrenamtlich beim israelischen Rotkreuz-Pendent „Magen David Adom“ tätig, stieß Eli Beer bei der Gründung seiner Freiwilligenorganisation noch auf Widerstände, die offiziellen Verbände weigerten sich anfangs, eingehende Notrufe mit Hatzalah zu kommunizieren. So wurde in den Anfängen - illegalerweise - kurzerhand der Polizeifunk abgehört.

Sendungshinweis

Über dieses Thema berichtete auch der Ö1-Radiodoktor in der Sendung: „Medizin ohne Grenzen“.

Mittlerweile ist United Hatzalah fixer Bestandteil des Gesundheitssystems, rund 1.000 Notrufe gehen täglich in der hauseigenen Einsatzzentrale ein, die landesweit mittlerweile rund 5.000 freiwillige „Paramedics“ per Smartphone dirigiert, auch Ärztinnen und Ärzte sind in ihrer Freizeit an Bord. Jene Helfer, die am nächsten dran sind werden per GPS geortet, informiert und können dann mittels App den Einsatz annehmen oder ablehnen – denn die meisten Helfer sind ehrenamtlich tätig und gehen ihren Berufen nach.

Einspurig rascher ans Ziel

Während die Vernetzung der in ganz Israel tätigen freiwilligen Ersthelfer die Grundsäule darstellt, wird United Hatzalah nach außen hin vor allem aufgrund der zahlreichen Mopeds und Motorräder wahrgenommen. „Die Überlegung war, dass Krankenwägen keine Leben retten. Menschen retten Leben“, erklärt Raphael Poch, selbst als Helfer im Einsatz und internationaler Sprecher der Organisation. „Es geht also darum, Menschen so rasch als möglich an den Ort des Geschehens zu bringen.“

Zwei Mitarbeiter von United Hatzalah mit roten Motorrädern

AFP

Die Grundausstattung: Motorrad, Einsatzlicht, Erste-Hilfe-Box

Nach entsprechender Ausbildung werden den freiwilligen Paramedics einspurige Kraftfahrzeuge zur Verfügung gestellt, die sie auch privat nutzen können. Ausgestatten mit Einsatzlicht und Sirene, sowie einer Box, die an einen Pizzaservice erinnert, schlängeln sich die Ersthelfer im Stau an den Autokolonnen vorbei, Sauerstoff, Infusionsbesteck mit Salzlösung, Reanimationszubehör, Defibrillator und Verbandsmaterial im Gepäck. 650 Motorräder sind bereits im Einsatz.

Damit könne, so Raphael Poch, die Zeit bis zum Eintreffen drastisch reduziert werden: In den Ballungszentren von Jerusalem, Tel Aviv, Haifa und Eilat benötigen die Helfer bloß 90 Sekunden bis zum Unfallort, selbst in entlegenen Gebieten Israels sind es im Schnitt nur drei Minuten.

Hilfe über die Grenzen hinweg

Die spezielle Situation im geteilten Jerusalem stellt die staatlichen Rettungsorganisationen vor große Herausforderungen. Zwar kann man die 750.000-Einwohner-Metropole ohne Hindernisse zu Fuß oder mit dem Auto durchqueren, auf politischer Ebene teilt jedoch ein unsichtbarer Zaun die Stadt in Ost und West. „Ein großes Problem ist, dass unsere Rettungsfahrzeuge nicht ohne militärische Eskorte nach Ostjerusalem dürfen. Sie müssen vor einer bestimmten Straße stehenbleiben, weil es zu gefährlich wäre, weil sie mitunter attackiert oder mit Steinen beworfen werden“, erklärt Poch.

So wurde von United Hatzalah das „East-Jerusalem-Chapter“ ins Leben gerufen. 300 Freiwillige aus Ostjerusalem leisten in ihrer Community Hilfe, jedoch auch über der Grenze im Westteil der Stadt, um Erste Hilfe zu leisten, bis die Rettung eintrifft.

Große Bildschirme in der Einsatzentrale von United Hatzalah

Ronny Tekal/ORF

Die Einsatzzentrale von United Hatzalah

Auch wenn United Hatzalah als orthodoxe jüdische Organisation in Israel beheimatet ist, sind neben Juden auch arabische Israelis und Menschen aus den palästinensischen Gebieten tätig. Gemeinsam mit anderen Verbänden, wie „Physicians for Human Rights“ führen auch sie Krankentransporte aus den palästinensischen Gebieten durch, die sich aufgrund der israelischen Sperranlagen rund um die palästinensischen Wohngebiete schwierig gestalten.

Die Hilfe auf der Straße kann in angespannten politischen Zeiten eine Herausforderung darstellen, bedauert Raphael Poch. „Es ist traurig zu beobachten, wenn ein palästinensischer Mitarbeiter von United Hatzalah nach einem von einem Muslim aus Ostjerusalem begangenen Terroranschlag den Opfern hilft - und die Leute dahinterstehen und voller Wut ‚Tod den Arabern!‘ rufen.“

GPS-Ortung bei Großveranstaltungen

Über die Leitstelle können per GPS-Ortung die Paramedics lokalisiert und zum Unfallort gelotst werden. Mit der Entwicklung der Smartphone-Technologie in den letzten Jahren konnte die Kommunikation zwischen Ersthelfern und Zentrale noch verbessert werden. Bei Großveranstaltungen kommt ein weiteres System zum Einsatz, das die Bestimmung der Position der Freiwilligen innerhalb eines Umkreises von nur wenigen Metern ermöglicht.

Neu ist die Einführung von Psychotrauma-Teams. 300 freiwillige Psychotherapeuten, Psychiater und Sozialarbeiter können bei Bedarf zusätzlich angefordert werden und sind landesweit nach 15 Minuten vor Ort, um psychisch traumatisierten Personen nach einem Unfall oder einem Anschlag beiseite zu stehen.

Ersthelfer-App auch in Österreich

Auch wenn die gesetzlichen Rahmenbedingungen in Österreich anders sind, versucht man auch hierzulande die medizinische Erstversorgung auf ähnlichem Weg zu verbessern. Seit kurzem steht die „Lebensretter-App“ zur Verfügung, die in Kooperation mit der Wiener Berufsrettung, dem Verein PULS und den Landesverbänden diverser Rettungsorganisationen betrieben wird. Registrierte Ersthelfer werden bei einem Notfall in ihrer Nähe per Smartphone informiert. In Wien konnte über die App bereits zahlreichen Personen geholfen werden, in ländlichen Gebieten gibt es nur punktuell funktionierende First-Responder-Systeme.

United Hatzalah agiert in Israel indes landesweit, selbst in den kleinen Ortschaften finden sich aktive Helfer am elektronischen Display der Einsatzzentrale in Jerusalem. Die Organisation finanziert sich ausschließlich durch Spendengelder. Lediglich die Rettungsfahrten mit den 40 Krankenwägen in die Spitäler werden abgegolten. Der Aufwand scheint sich auszuzahlen. Seit Bestehen der Organisation konnte laut der israelischen kardiologischen Gesellschaft die Todesrate nach Herz-Kreislaufstillständen um 50 Prozent gesenkt werden.

Ronny Tekal, Ö1-Radiodoktor

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