„Orte, die Urteilskraft stärken sollen”

Was ist die Funktion nationaler Geschichtsmuseen, etwa des Hauses der Geschichte Österreich, das demnächst eröffnet? „Sie sollen Diskursorte sein, an denen die historische und politische Urteilskraft gestärkt wird”, sagt der Historiker Raphael Gross.

Gross ist Leiter des Deutschen Historischen Museums (DHM) in Berlin und gerade Gast der Tagung “Das umkämpfte Museum”, die noch bis heute an der Österreichischen Akademie der Wissenschaften in Wien stattfindet. Der Schweizer Historiker leitet mit dem DHM eine große und erfolgreiche Institution, die im Vorjahr über 800.000 Besucher hatte. Dem Haus der Geschichte Österreich (hdgö), dessen Bestand bisher nur bis Mitte 2020 gesichert ist, wünscht Gross “Planungssicherheit” - dass diese aktuell nicht gegeben ist, hält er für “misslich”.

Raphael Gross bei der ÖAW-Konferenz

Peter Stachel - ÖAW

Raphael Gross ist seit 2017 Präsident der Stiftung Deutsches Historisches Museum in Berlin. Zuvor war er Direktor des Simon-Dubnow-Instituts für jüdische Geschichte und an der Universität Leipzig, Direktor des Jüdischen Museums Frankfurt (2006-2015); Direktor des Leo Baeck Institute London (2001-2015) und Direktor des Fritz Bauer Instituts - Frankfurt am Main (2007-2015).

science.ORF.at: Das DHM war vor seiner Eröffnung 1987 sehr umstritten. Kritiker wie der Schriftsteller Günter Grass befürchteten eine staatlich verordnete Geschichtsschreibung im Sinne Helmut Kohls, dem das Museum eine Herzensangelegenheit war. Auch in den Jahren vor Ihrer Leitung gab es Streit. Nun scheint es wieder in ruhigem Gewässer. Wie haben Sie das geschafft?

Raphael Gross: Es ist immer schwer, das selbst einzuschätzen. Ganz zentral ist aber eine klare Vision, wofür so ein Museum stehen soll. Ich habe von Anfang an gesagt: Wir müssen in der jetzigen Situation, in der wir uns in Berlin, Deutschland, Europa und weltweit befinden, dieses Museum als einen Ort nutzen, an dem man die historische und politische Urteilskraft stärkt. Diese Vision habe ich mit dem Team geteilt, viele haben mitgemacht und so ist am DHM ein positiver Geist entstanden. Deshalb hat das bisher in relativ kurzer Zeit sehr gut funktioniert.

Wie kann das gelingen, die politische und historische Urteilskraft zu stärken?

Gross: Das hat stark mit der Art zu tun, wie man mit Themen und Objekten umgeht. Zugute kam mir vielleicht, dass ich schon am Jüdischen Museum in Frankfurt, wo ich zehn Jahre Direktor war, so etwas wie ein Format für mich gefunden habe, wie man mit Geschichtsthemen umgehen kann. Ich nenne das “Konfliktausstellungen“, also das Ausstellen von Konflikten. Wenn man das einmal so sieht, eröffnet sich plötzlich ein Raum, weil man nicht mehr die Aufgabe hat, eine autoritäre Antwort zu geben. Die Vorstellung, wonach der Historiker - ich benutze absichtlich die männliche Form, weil es aus diesem 19. Jahrhundert-Duktus stammt - die ultimative Antwort auf historische Fragen gibt, führt ungewollt zu Konflikten, die man dann auch noch zu unterdrücken versucht. Wenn man aber von Anfang an klarstellt, dass historische Dinge umstritten sind, und man versucht diese Konflikte auszustellen - nicht weil wir sie wiederholen wollen, sondern weil sie als Konflikte so interessant sind -, dann kann so ein Museum heute ein wichtiger Diskursort sein.

Ö1-Sendungshinweis

Über das Thema berichteten auch die Ö1-Journale, 4.10., 12:00 Uhr.

Ein solcher Konflikt in Österreich ist der Bürgerkrieg 1934, an dem sich immer noch oft die historischen Geister scheiden. Wie kann man so einen Konflikt darstellen, sodass sich alle darin wiederfinden?

Gross: Zu diesem Konflikt gibt es Experten und Expertinnen, die Ihnen mehr sagen können. Aber ich kann Ihnen ein anderes Beispiel nennen, das in Deutschland gerade stark diskutiert wird: die Kolonialgeschichte, insbesondere der Genozid an den Herero und Nama am Anfang des 20. Jahrhunderts, und der Umgang mit kolonialen Objekten. Wir hatten einen konkreten Konfliktfall, Namibia hat die Rückgabe eines zentralen Objekts in unserer Dauerausstellung gefordert - eine Wappensäule aus dem 15. Jahrhundert. Ich habe nun keine Völkerrechtler gesucht, die mir ein Gutachten schreiben, das dann in eine diplomatische Note mit Ja oder Nein einfließt. Stattdessen haben wir ein Symposion veranstaltet, wo Forscher, Forscherinnen, Politiker, Ethiker, Völkerrechtlerinnen und Historikerinnen über den Fall diskutiert haben. Die Debatte ist noch nicht am Ende, aber als Zwischenresultat hat die namibische Regierung angefragt, ob wir dort nicht noch ein Symposion machen können, sodass es wirklich eine gemeinsame Diskussion gibt - über das Objekt, aber auch über die Darstellung der ehemaligen deutsch-südwestafrikanischen Kolonie am DHM. Ich denke, das ist für alle Seiten wichtig.

Die Säule von Cape Cross

DHM, William Blakemore Lyon

Das Objekt des Konflikts: Die Säule von Cape Cross mit portugiesischem Wappen und Kreuz, die Ende des 15. Jahrhunderts an der Westküste Afrikas aufgestellt wurde, um den Kolonialanspruch Portugals zu dokumentieren. Als die Deutschen das Land in Besitz nahmen, wurde die Säule ins Deutsche Kaiserreich gebracht.

Verstehen Sie das Museum in diesem Sinne als moralische Anstalt - vielleicht nicht wie früher, indem man Einzelnen eine bestimmte Geschichte erzählt, aber indem man einen offenen Prozess wie den beschriebenen durchführt, der zum Schluss zu einer moralischen Antwort führt?

Gross: Ich habe, speziell wenn es um Restitution aus der NS-Zeit geht, die Haltung, dass wir als Direktoren von Museen einen hohen ethischen Anspruch an unsere Sammlung haben müssen. Wir sollten großes Interesse nicht nur an einer möglichst wertvollen und prominenten Sammlung haben, sondern auch an einer ohne geraubte Objekte. Das ist vermutlich eine moralische Haltung, “moralische Anstalt” finde ich ein bisschen viel.

Das ist eine moralische Haltung gegenüber den Objekten, wie sieht es mit der Haltung aus gegenüber den Besucherinnen und Besuchern der Museen?

Gross: Da kann man Verschiedenes darunter verstehen. Wir versuchen z.B. vielen Gruppen der Bevölkerung den Zugang zu ermöglichen, auch Blinden oder kognitiv Eingeschränkten. Das könnte man Demokratisierung oder Öffnung gegenüber allen, die Interesse haben, in ein Museum zu kommen, nennen. Das andere: Ich denke, die Besucher werden Verschiedenes mitnehmen, je nachdem was sie mitbringen. Diese Offenheit ist vielleicht auch ein gewisser moralischer Anspruch - nicht festzulegen, dass es nur diese Perspektive gibt, die man erlebt, oder nur diese Geschichte, die erfahrbar ist. Wenn jemand aus Korea, den USA, aus Neuseeland oder aus Österreich ans DHM kommt, bringt er oder sie ganz viel mit an Verständnis der Welt der Geschichte. Die Vorstellung, dass ich für alle diese eine Geschichte produziere, finde ich nicht so ideal. Es ist wichtig, den verschiedenen Perspektiven Raum zu geben und die Objekte in verschiedener Weise wirken zu lassen.

Wo liegen die Grenzen dieser Perspektivenvielfalt - es gibt ja auch Leute, die den Holocaust leugnen …?

Gross: Sie liegen da, was Reinhart Koselleck das “Vetorecht der Quellen” genannt hat. Es gibt zwar beliebig viele Erzählungen, aber nicht beliebige. Es gibt welche, die man in einem Museum nicht zeigen kann, weil sie schlicht antifaktisch sind. Jemand der KZ’s oder Gaskammern leugnet, ist jenseits dessen, was man den historischen Diskurs nennen könnte.

In der Einladung zur Tagung wird von einem Spannungsfeld gesprochen, in dem sich nationale Geschichtsmuseen heute befinden - einem Spannungsfeld zwischen der “Erfolgsgeschichte” eines Landes und ihrer Dekonstruktion. Wo verorten Sie sich da?

Gross: Ich halte diese Begriffe für fragwürdig. Wie misst man etwa den Erfolg einer nationalen “Erfolgsgeschichte”? In Deutschland könnte man damit die Wiedergutmachung oder Erinnerungskultur meinen. Da müsste man vergleichbare Geschichten in anderen Ländern nebeneinanderlegen und sagen: Aha, da ist es nicht so erfolgreich gemacht worden wie bei uns! Und zur Dekonstruktion: Das ist eine Theorielinie, die mir nicht so naheliegt. Ich würde aufklärerischer mit Kant oder Hannah Arendt argumentieren, dass es historische Urteilskraft ist, was wir heute brauchen. D.h. wir sollten am DHM nicht versuchen, eine geschlossene Geschichte zu erzählen, sondern ein Ort werden, wo man historische und politische Urteilskraft stärkt - und die hat mit Offenheit und Multiperspektivität zu tun.

Der Balkon oder Altan am Heldenplatz an der Hofburg, auch bekannt als "Führerbalkon

APA - Roland Schlager

Der Balkon am Wiener Heldenplatz an der Hofburg, von dem aus 1938 der „Anschluss“ an das Deutsche Reich verkündet wurde

Was heißt das für die deutsche nationale Identität, für die Frage: Wer sind die Deutschen?

Gross: Dass wir uns nicht darauf versteifen, dass endlich einmal klären zu müssen. Interessant ist ja, dass die Frage der nationalen Identität einen großen Teil dessen ausmacht, was man historisch als Nationalismus beobachtet. Nationalisten wollen ständig darüber diskutieren, wie die Nationalität genau aussieht. Da gibt es viele Antworten: die Sprache, die Geschichte, die Rechtsform, die Verfassung, die Abstammung, die Anständigkeit … das ist ein weites Feld.

Wie gehen Sie dieser Frage in Ihrem Museum nach?

Gross: Wir konzipieren gerade eine neue Dauerausstellung. Welchen Raum wir diesem Thema einräumen, ist noch offen. Wir werden es aber sicher zum Objekt unserer Geschichtsdarstellung machen, weil sich offensichtlich viele Menschen für die Definition der nationalen Identität interessiert haben. Dies ist seit dem späten 18. Jahrhundert ein wichtiger Teil der europäischen und dann auch der Weltgeschichte. Aber das ist sehr kompliziert, wenn Sie etwa bedenken, dass wir auch mittelalterliche Geschichte darstellen und noch nicht klar ist, wann wir anfangen werden. Die Frage, wie weit die deutsche Geschichte reicht, ist schon Teil des nationalen Diskurses. Vor diesem Hintergrund tut ein Museum gut daran, vorsichtig zu sein und zu schauen, wie man denjenigen, die zu uns kommen, helfen kann, ihre Urteilskraft zu stärken und sich nicht in diesen nationalistischen Diskurs zurückzuziehen.

Das Haus der Geschichte Österreich wird 100 Jahre nach der Republiksgründung eröffnet: Ist das nicht etwas spät?

Gross: Ich hab die Diskussion hier nicht so genau verfolgt: “Spät” oder “zu spät” sind immer relative Kriterien, man kann das Datum bedauern oder bejubeln. Es scheint mir aber, wie ich heute gehört habe, dass die Zukunft des Hauses noch völlig ungeklärt ist. Da kann ich als Museumsmacher nur meine Solidarität denjenigen gegenüber ausdrücken, die das gestalten sollen. Das ist eine sehr missliche Situation, man braucht Planungssicherheit. Museen sind ja nicht nur Orte des Sammelns, Vermittelns und Forschens, sie sind auch kulturelle Speicher für ein Land, und da muss man planen können. Insofern halte ich die fehlende Zukunft für problematischer als die lange Zeit, die es gebraucht hat, es zu eröffnen.

Bietet die späte Eröffnung, der sehr lange politische Querelen vorangegangen sind, vielleicht sogar spezielle Chancen?

Gross: Das kann ich nicht beurteilen. Ich denke, dass jede Zeit immer wieder anders auf die Geschichte zurückblickt und sie in Museen unterschiedlich behandelt. Die heutige Dauerausstellung am DHM endet mit der deutschen Wiedervereinigung 1989, sozusagen mit dem Höhepunkt, auf den alles hinzuläuft. Jetzt sind wir einige Jahre später, und es stellen sich ganz neue Fragen. Das ist immer ein dynamischer Prozess, aber in dem Moment, wo so ein Haus da ist und eine Sammlung entsteht, gibt es eine eigene Entwicklung, und man wird sehen, in welche Richtung es geht. Ich finde es auch wichtig, dass das hdgö nicht als ein Nationalmuseum gesehen wird, sondern als ein Museum der Geschichte der Republik. Und das eröffnet sehr viel, denn wir sind in einer Zeit, wo Institutionen, die Demokratie stärken, seien es Museen oder andere, unterstützt werden sollten. Denn wir sehen heute, wie fragil liberale Demokratien sein können.

Interview: Lukas Wieselberg, science.ORF.at

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