Von der Autonomie in die Selbstausbeutung

Flexibel, motiviert und leistungsbereit müssen Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen heute sein, wollen sie sich gut am Arbeitsmarkt positionieren. Doch das vermeintliche Mehr an Autonomie und Selbstverwirklichung hat auch Schattenseiten.

„Mach es zu deinem Projekt“, so lautet seit ein paar Jahren der Werbeslogan eines Baumarktes. Und tatsächlich ist Projektarbeit mittlerweile weit verbreitet. Hierarchien gelten als verkrustet und überholt. Der Chef soll mehr Coach als Vorgesetzter sein und der einzelne Mitarbeiter, die einzelne Mitarbeiterin soll Verantwortung übernehmen.

„Was nach einer Humanisierungsoffensive aussieht, entpuppt sich auf Grund des Erfolgs- und Zeitdrucks oftmals als Belastung.“, sagt Johanna Hofbauer, Professorin am Institut für Soziologie und Empirische Sozialforschung an der Wirtschaftsuniversität Wien. Beschäftigte müssten heute nicht nur Zeit und Arbeitskraft zur Verfügung stellen, sondern seien mit ihrer gesamten Persönlichkeit gefragt. Die Soziologie spricht in diesem Zusammenhang von der Entgrenzung und Subjektivierung von Arbeit.

Leeres Büro und verschwommener Mann, Arbeitsplatz, Glaskontainer

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Modernes Büro

Freiheit versus Selbstausbeutung

Handy, Laptop und flexible Arbeitszeiten: Die permanente Erreichbarkeit hinterlässt Spuren in unserer Gesellschaft. Stressbedingte Erkrankungen wie etwa Burn-Out nehmen zu. Vier von zehn Beschäftigten gaben bei einer Umfrage der Allianz-Versicherung an, akut stressgeplagt zu sein. „Häufig bedeutet Flexibilisierung, dass von außen Flexibilisierungszwänge vorgegeben werden“, betont Klaus Dörre, Soziologieprofessor an der Universität Jena. Gipfeln würde diese Flexibilisierung in der „Arbeit auf Abruf“. Diese ist in Österreich illegal. In Deutschland arbeiten aber bereits 1,9 Millionen Beschäftigte nach Bedarf des Arbeitgebers. Die Auseinandersetzung um Zeitsouveränität und Entscheidungsfreiheit sei zentral, so der Soziologe.

Bei der Projektarbeit wird den Beschäftigten meist nur Budget, Zeitrahmen und gewünschter Output vorgegeben. Was für die einen Freiheit und Selbstverwirklichung bedeutet, kann für die anderen in Selbstausbeutung enden. Es gebe bei der Projektarbeit meist keine klaren Leistungsmesser in Bezug auf die Arbeitszeit, meint Klaus Dörre. Die Verantwortung für die Aufgabenerfüllung liegt bei den Ausführenden. Es kommt zu Nachtarbeit und Wochenendarbeit, um Projekte rechtzeitig abzuschließen. „Dass Sie selbst dann ausgebeutet werden können, wenn sie hoch bezahlt sind, weil das Unternehmen eben doch in der Lage ist unbezahlte Mehrarbeit anzueignen, das wird nicht so sichtbar.“ Die Beschäftigten tragen Verantwortung und werden dadurch zu Unternehmern im Unternehmen.

Die Fabrik als Disziplinierungsanstalt

Die Zeitrhythmen der Arbeit haben sich seit der Industrialisierung maßgeblich verändert. Zu Beginn musste den Arbeiterinnen und Arbeitern das enge Zeitkorsett der Fabrik erst beigebracht werden. „Die vorindustrielle Gesellschaft arbeitete mit dem Rhythmus der Natur“, erklärt Johanna Hofbauer. „In der Fabrik waren die Menschen plötzlich ganz neuen Zwängen unterworfen.“ Diese Zwänge wurden auch architektonisch greifbar. Die Fabrikmauern und Tore sorgten für einen streng reglementierten Zugang. Fabrikgesetze regelten das Verhalten während der Arbeitszeit.

Mitarbeiterin in einem Amazon-Logistikzentrum fährt mit Wagerl durch riesige Halle mit Regalen voller Waren

APA/dpa-Zentralbild/Jan Woitas

Mitarbeiterin eines Amazon-Logistikzentrums

Moderne Arbeitstugenden wie Fleiß und Pünktlichkeit haben maßgeblich zur Entwicklung der kapitalistischen Wirtschaft und Gesellschaft beigetragen. Ihr Ursprung liegt in den Disziplinierungsmaßnahmen der Fabrik. Es hat allerdings ein paar Generationen gedauert, bis die Arbeiterinnen und Arbeiter diese Fabrikdisziplin internalisiert haben, sagt die Soziologin Johanna Hofbauer. Die erste Generation von Fabrikarbeitern wurde noch nicht als „fabriktauglich“ angesehen. „Da hatten die Fabrikherren noch das Problem: How to get work out of workers – wie kann man diese Arbeiterinnen und Arbeiter überhaupt produktiv machen und zu dieser industriellen Disziplin anhalten.“

„Der neue Geist des Kapitalismus“

Laut den beiden französischen Sozialwissenschaftlern Luc Boltanski und Ève Chiapello inkorporiert der Kapitalismus die gegen ihn vorgebrachte Kritik. In ihrem 1999 veröffentlichten Buch „Der neue Geist des Kapitalismus“ beschreiben sie, wie die Forderungen der 68er-Bewegung nach Freiheit, Autonomie und Authentizität, die sie als Künstlerkritik bezeichnen, aufgenommen und zur neuen Legitimationsform des Kapitalismus erhoben wurden.

Erhöhtes Arbeitstempo, steigender Termindruck, hoher Konkurrenzdruck, dafür mehr Autonomie und Verantwortung: Johanna Hofbauer spricht von „fremdbestimmter Selbstbestimmung“. Keiner würde heute zurück in die alte Bürokratie und den Taylorismus wollen, räumt die Soziologin ein, doch viele leiden unter dem vorherrschenden Leistungsdruck. Wer nach sozialer Sicherheit rufe oder Zeit für Pflegearbeit oder ehrenamtliches Engagement einfordere, gelte schnell als Kandidat für die „soziale Hängematte“.

Juliane Nagiller, Ö1-Wissenschaft

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