Kosmopoliten nur beim Essen

Pizza, Kebab und Curry: Speisen aus anderen Kulturen sind heute selbstverständlich. Angst vor dem Fremden spielt beim Essen kaum eine Rolle - auffallend anders als bei den Menschen, die es zubereiten, findet der Kulturwissenschaftler Thomas Macho.

science.ORF.at: Es gibt den Ausspruch „Du bist, was du isst“ – inwiefern schafft Essen Identität?

Thomas Macho: Essen ist auf eine nicht immer transparente Weise mit unserer Geschichte und kulturellen Tradition verknüpft. Fragt man Menschen nach ihren frühen Erinnerungen, so denken sie oft an eine Mahlzeit, die sie zu Hause bekommen haben, die besonders gut oder besonders schlecht geschmeckt hat. Zudem ist das, was man in seiner Kindheit gegessen hat, für viele auf eine bestimmte Weise mit der Emotion von Heimat und Zuhause verbunden. Es trägt dazu bei, sich in der Welt zurechtfinden, auch wenn wir darüber nur selten nachdenken.

Porträtfoto des Kulturwissenschaftlers Thomas Macho

Jan Dreer für IFK

Thomas Macho ist Kulturwissenschaftler, Philosoph und Direktor des Internationalen Forschungszentrum Kulturwissenschaften | Kunstuni Linz in Wien.

Sie beschäftigen sich mit Migration und Essen – wie eng sind die beiden miteinander verknüpft?

Macho: Migrationsprozesse waren bisher sehr häufig mit der Etablierung neuer Küchen verbunden. Nach dem Zweiten Weltkrieg etwa nahmen mit den Gastarbeitern aus Italien und der Türkei auch die Anzahl italienischer und türkischer Restaurants zu. Zugleich sind Menschen vermehrt in fremde Länder wie Thailand oder Japan gereist und wollten dann auch zu Hause in thailändische oder japanische Restaurants gehen. Das lässt sich bis ins 19. Jahrhundert zurückverfolgen, als Weltreisende in Büchern davon berichteten, was sie überall verzehrt und gekostet haben. Es gab auch damals schon die ersten Versuche, solche Lokalitäten in Europa einzurichten, wie etwa die ersten Eisläden. Heute gehen wir selbstverständlich davon aus, dass eine lebenswerte Stadt wie Wien alle Arten von exotischen Küchen anzubieten hat: Indonesisch, Persisch, Chinesisch, Arabisch oder zumindest Pizza und Kebab.

Stehen diese Lust auf exotische Küchen und der selbstverständliche Umgang damit nicht im Widerspruch zur Skepsis gegenüber den Menschen, die Kebab, Pizza und Ćevapčići zubereiten?

Macho: Die Fremdenangst steht tatsächlich in einer seltsamen Beziehung zur Neugier auf das Fremde, das Andere, das Unbekannte. Das kann man sehr schön verdeutlichen, indem man daran erinnert, dass das Interesse, Urlaub im Ausland zu machen, aber auch Touristen aus anderen Ländern zu empfangen und bewirten, einen relevanten Beitrag zum jeweiligen Bruttoinlandsprodukt leistet. In gewisser Hinsicht ist also die Migration nur die andere Seite des Tourismus und zwar eine sehr viel kleinere. 2017 wurden etwa 1,3 Milliarden touristische Reiseankünfte gezählt. Auf der Flucht waren 2016 laut den UNHCR-Statistiken 69 Millionen, und davon sind 90 Prozent unmittelbar in ein Nachbarland geflohen. Das heißt, es sind sehr viel mehr Menschen auf der Welt in Bewegung, nicht weil sie müssen oder vertrieben worden sind, sondern weil sie neugierig sind auf etwas Anderes. Im Essen manifestiert sich auch diese Sehnsucht nach dem Fremden.

Was sagt es über Menschen aus, die gerne exotische Küchen ausprobieren?

ORF-Schwerpunkt: Mutter Erde

„Schau, wo dein Essen herkommt!“ - unter diesem Motto steht der Mutter-Erde-Schwerpunkt des ORF von 13. bis 19. Oktober 2018.

Ö1-Sendungshinweis

Dem Thema widmet sich auch ein Beitrag in Wissen aktuell: 18.10., 13:55 Uhr.

Macho: Dass sie Spaß an Experimenten haben, dass sie kreativ sind, und dass sie verschiedenartige Geschmacksrichtungen schätzen. Man kann sogar sagen, darin drückt sich ein selbstverständlicher, einverleibter Kosmopolitismus aus. Diese Haltung entspringt keiner Ideologie, sondern der Lust und dem Geschmackssinn. Ich denke nicht, dass wir darüber oft nachdenken. Das heißt aber generell, dass wir viel vorurteilsfreier und offener im Alltag leben, als uns die Politik und die häufige Beschwörung von Ängsten der Bevölkerung weiszumachen versuchen. In unserer alltäglichen Lebenspraxis, und da gehören Tourismus und Essen dazu, gehen wir viel selbstverständlicher mit der Vielfalt der Kulturen und den kulturellen Angeboten um.

Sie haben vorhin den Geschmack angesprochen: Hat sich unser Geschmack durch die Vielzahl an Küchen im Laufe der Zeit verändert?

Macho: Die Geschichte des Geschmacks führt uns rasch zurück bis in die frühe Neuzeit. Im Mittelalter wurde noch relativ streng mit der Essenslust umgegangen, und man geriet schnell in Verdacht, sich nach christlichen Moralvorstellungen der Völlerei schuldig zu machen und zu gierig zu sein. Im Verlauf der Renaissance und im 17. Jahrhundert hat sich das stark verändert. Plötzlich war es beliebt, unbekannte Speisen zu essen. Man muss hier aber auch bedenken, dass viele Gemüsearten wie die Tomaten und Kartoffeln, die wir heute als heimisch erachten, aus fernen Ländern importiert wurden. Auch Zucker und Tabak haben sich erst nach der Entdeckung Amerikas in Österreich angesiedelt. Zudem ist die österreichische Küche selbst von Küchen aus der k. u. k. Monarchie beeinflusst, insbesondere von der böhmischen und ungarischen sowie der norditalienischen. Uns sind heute also Geschmäcker vertraut und werden mit Heimatgefühlen assoziiert, die früher ganz unbekannt und fremd waren.

Es gibt immer wieder Berichte, wonach klassische Würstelstände und Wirtshäuser durch andere Restaurants und Imbisse abgelöst werden. Wie schätzen Sie die Lage ein?

Macho: Es gibt Gentrifizierungseffekte, wo andere Küchen ältere Beiseln oder Würstelstände verdrängen. Aber ich denke, dass die Beiseldichte immer noch einen erheblichen Teil der Bevölkerung zufrieden stellen kann. Man wird kein Problem haben, im Umkreis von ein paar hundert Metern vom jeweiligen Wohnort solche Lokale zu finden. Das gilt sogar für London oder Paris. Zudem ist das Angebot insgesamt reicher geworden, das geht nicht nur auf Kosten der alten und vertrauten Gewohnheiten: Schnitzel und Knödel schmecken besser, wenn sie auch ein wenig als exzeptionell wahrgenommen werden. Ich sehe in dieser Entwicklung einen Effekt von Belebung, nicht einen Effekt von Ungleichheit oder Verdrängung.

Ruth Hutsteiner, Ö1-Wissenschaft

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