Ist Schönheit überbewertet?

Die Suche nach der Weltformel ist, so scheint es, fürs Erste gescheitert. Die deutsche Physikerin Sabine Hossenfelder rät ihren Kollegen aus dem theoretischen Fach: Vergesst all die eleganten Theorien, die Hoffnung liegt in der Hässlichkeit!

science.ORF.at: Frau Hossenfelder, Sie gehen in ihrem Buch „Das hässliche Universum“ mit ihrer Zunft hart ins Gericht. Ihre These lautet: Die theoretischen Physiker hätten sich zu sehr von Schönheit betören lassen - und sich so in eine Sackgasse manövriert. Was ist da falsch gelaufen?

Sabine Hossenfelder: Man hat die Aufmerksamkeit zu sehr auf Schönheitskriterien gerichtet, sich also auf Arten von Theorien fokussiert, die letzte Endes nirgendwo hinführen. Und das ist bis heute so.

Sabine Hossenfelder

Sabine Hossenfelder

Zur Person

Sabine Hossenfelder forscht am Frankfurt Institute for Advanced Studies zum Thema Quantengravitation sowie an Alternativen zum Standardmodell der Elementarteilchen. Ihr Buch „Das hässliche Universum“ ist im S. Fischer Verlag erschienen.

Schönheit ist überbewertet?

Sabine Hossenfelder: Ich muss zugeben, dass ich viele dieser Theorien selbst schön finde. Das ich auch nichts Falsches dran. Das Problem entsteht dann, wenn Leute ihr persönliches Schönheitsempfinden für die Entwicklung von Theorien benützen und sich dadurch einschränken. Die Erfahrung der letzten Jahrzehnte zeigt: Wenn man diese Theorien testet, bekommt man null Resultate. Kein Ergebnis ist auch ein Ergebnis - aber es hilft uns nicht bei der Frage: Wie kommen wir jetzt weiter?

Das klingt, als befände sich die gegenwärtige Physik in einer Krise. Ist das so?

Sabine Hossenfelder: Den meisten Gebieten der Physik geht es toll. Ich spreche nur von der Grundlagenphysik, von den großen Fragen: Was sind die Strukturen der Materie? Was sind Raum und Zeit? Hier gibt es tatsächlich eine Krise. Ein konkretes Beispiel: Wir kennen vier verschiedene Naturkräfte - Gravitation, Elektromagnetismus, starke und schwache Kernkraft. Das Problem ist, dass die Gravitation nicht zu den anderen Kräften passt, mathematisch ist das ein Widerspruch. Wir wissen zum Beispiel auch, dass es Dunkle Materie im Universum gibt - aber wir wissen nicht, was das ist. Diese Probleme kennen wir seit 80 Jahren. Ich denke, es ist fair zu sagen: Da haben wir nicht besonders viele Fortschritte gemacht.

Was ist Schönheit in der Physik?

Sabine Hossenfelder: Zunächst Einfachheit. Eine schöne Theorie ist einfach, da ist sozusagen kein zusätzlicher Unfug drinnen. Sie soll außerdem natürlich sein, das heißt, dass die Parameter in den Theorien - das sind bestimmte Zahlenwerte ohne Einheiten - weder besonders groß noch besonders klein sind. Das dritte Kriterium ist Eleganz. Sol heißen: Die Theorie soll einfach sein, aber nicht zu einfach. Sie soll Überraschungen oder zusätzliche Einsichten bieten.

Buchcover "Das hässliche Universum"

S. Fischer Verlag

Ist mit Natürlichkeit gemeint: keine willkürlichen Zahlenverhältnisse, sondern wohlgeformte Proportionen?

Sabine Hossenfelder: Ja, alleine Ihre Formulierung zeigt schon: Das hat viel mit menschlichem Empfinden zu tun. Die Theorie soll nicht so aussehen, als wäre sie von Hand geformt. Aber es ist schwierig, diese Intuition mathematisch strikt zu formulieren. Und genau das fangen meine Bauchschmerzen an.

Sprechen wir über eine konkrete Theorie, nämlich die Allgemeine Relativitätstheorie. Die ist einfach und elegant formuliert und hat in den 100 Jahren ihres Bestehens noch jeder Überprüfung standgehalten. Ein Hinweis darauf, dass die Schönheit als Kriterium so falsch nicht sein kann?

Sabine Hossenfelder: Die Allgemeine Relativitätstheorie wird als sehr elegant empfunden, weil sie in ihrer axiomatischen Formulierung sehr einfach ist. Und weil man daraus sehr überraschende Einsichten ableiten kann. Zum Beispiel, dass es Schwarze Löcher geben muss. Oder auch Gravitationswellen, Lichtablenkung und so weiter. Es stimmt schon, die Allgemeine Relativitätstheorie ist schön und erfolgreich. Aber es gab und gibt auch viele schöne Theorien, die nirgendwo hingeführt haben. Wenn man sich nur auf die erfolgreichen konzentriert, ist das eine einseitige Auswahl.

Zum Beispiel?

Sabine Hossenfelder: Früher ging man davon aus, dass sich die Planeten auf Kreisbahnen bewegen. Das fanden die Astronomen vor ein paar Hundert Jahren toll. Und letzten Endes musste man zugeben: Ellipsen funktionieren einfach besser. Da hat heutzutage auch kein Astronom mehr ein Problem damit. Die Schönheitskriterien haben sich einfach geändert. Es gab auch einmal die Vorstellung, dass sich das Universum nicht entwickelt und bis in alle Ewigkeit so bleiben wird, Amen. Die Idee des Urknalls wurde früher als abstoßend empfunden - heute ist sie allgemein akzeptiert.

Welche hässlichen Theorien wäre denn aus ihrer Sicht vielversprechend?

Sabine Hossenfelder: Ich kann Ihnen zwei Beispiele nennen. Auf der Skala von Galaxien haben wir Probleme mit dem Gravitationsgesetz. Die meisten Physiker lösen das, indem sie sagen: Es gibt im Universum zusätzliche, unsichtbare Massen, die Dunkle Materie. Eine andere Möglichkeit wäre, das Gravitationsgesetz der Allgemeinen Relativitätstheorie zu verändern. „Modifizierte Gravitation“ heißt dieser Ansatz - und der wird im Allgemeinen als sehr hässlich empfunden. Ich stimme dem sogar zu, nur sagt uns das nichts darüber, ob diese Theorien richtig sind.

Das zweite Beispiel: Die bekannteste Möglichkeit, die Gravitation mit der Quantentheorie zusammenzubringen, ist die Stringtheorie. Demnach ist Materie aus Strings aufgebaut. Das finden alle ganz toll und schön, weil man damit alle möglichen Theoreme beweisen kann und weil man da keine Parameter hinfummeln muss. Es gibt aber auch einen anderen Ansatz, die „asymptotisch sichere Gravitation“. Sie besagt im Wesentlichen: Wir brauchen keine neue Theorie, die Quantisierung der Gravitation ist möglich mit dem, was wir haben. Man muss sich bei den komplizierten Berechnungen eben ein bisschen mehr Mühe geben. Diesen Ansatz finden viele enttäuschend oder deprimierend. Ich halte ihn für sehr vielversprechend.

Sie fühlen sich konzeptuell vom Deprimierenden angezogen?

Sabine Hossenfelder: Das ist nicht der Grund! (lacht) Man konnte mit diesem Ansatz zum Beispiel erklären, warum die Masse des Higgs-Teilchens relativ klein ist. Dieser Umstand wird im Rahmen des Standardmodells als unnatürlich empfunden - was übrigens der Grund ist, warum die Physiker am CERN nach supersymmetrischen Teilchen suchen. Die asymptotisch sichere Gravitation sagt hingegen die Obergrenze der Higgs-Masse voraus. Ich finde das erstaunlich. In der Fachgemeinde hat das kaum Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Vermutlich deshalb, weil nur wenige Leuten mit dieser Theorie arbeiten. Oder eben deshalb, weil die Theorie nicht schön genug ist.

Ihr Vorwurf an die Kollegenschaft lautet: In der Physik steckt zu viel Metaphysik?

Sabine Hossenfelder: Ich würde es so formulieren: Viele sind sich gar nicht bewusst, dass sie metaphysische oder ästhetische Prinzipien benutzen. Deshalb lautet die englische Ausgabe meines Buches „Lost in Math“. Mathematisch kann man jedes Kriterien hinschreiben, aber man fragt sich nicht mehr: Wo kommt dieses Kriterium her?

Hans Magnus Enzensberger hat die unterirdischen Kavernen des CERN einmal als „größte Kathedrale der Physik“ bezeichnet.

Sabine Hossenfelder: Ein Festkörperphysiker fände das vermutlich ein bisschen unangebracht. Ich finde Teilchenbeschleuniger jedenfalls gut, weil man damit etwas über die Struktur der Materie auf feinsten Skalen herausfinden kann.

Wie haben eigentlich die Fachkollegen auf Ihre durchaus provokanten Thesen reagiert?

Sabine Hossenfelder: Gar nicht.

Warum?

Sabine Hossenfelder: Ich weiß es nicht, da müssen Sie meine Fachkollegen aus der theoretischen Physik fragen. Sehr viel Feedback kam von Physikern aus anderen Bereichen. Da sagten viele: Das habe ich auch schon immer gedacht, ich bin froh, dass das endlich jemand ausspricht.

Interview: Robert Czepel, science.ORF.at

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