„Ich wäre bei der Revolution voll dabei“

Die beiden Physiker Jochen Schieck und Josef Pradler stellen sich in einem Gespräch großen Fragen: Wo steckt die Dunkle Materie? Was ist ein Dunkles Portal? Und wie verwegen darf eine Theorie sein?

Herr Schieck, am 31.10. ist „Dark Matter Day“. Was hat die Dunkle Materie mit diesem Datum zu tun?

Jochen Schieck: Die Geschichte kommt aus den USA, am 31. Oktober ist ja nicht nur Reformationstag, sondern auch Halloween. In diesem Zusammenhang geht es darum, das Dunkle ein bisschen zu beleuchten und eine gewisse Öffentlichkeit zu schaffen.

Die Forscher

Jochen Schieck leitet seit 2013 das Institut für Hochenergiephysik (Hephy) der Österreichischen Akademie der Wissenschaften. Josef Pradler leitet ebenda die Theoriegruppe Dunkle Materie.

Dark Matter Day in Wien

Mit den Experten diskutieren: Am 31.10. stehen Physiker des Hephy für Fragen zur Dunklen Materie zur Verfügung. Zeit & Ort: ab 17.45 Uhr im Stadt-Beisl, WUK, 1090 Wien. Mehr dazu hier

Öffentlichkeit für etwas, das es vielleicht gar nicht gibt?

Jochen Schieck: So würde ich das nicht sagen. Es gibt Phänomene, die wir beobachten - und die wir mit der bekannten Physik nicht erklären können. Wir haben dem den Namen „Dunkle Materie“ gegeben, es geht jetzt darum zu verstehen: Was verbirgt sich dahinter? Ob es Materie ist, bleibt zu zeigen - ich würde sagen, das ist zumindest die beste Annahme. Jedenfalls beobachten wir im Universum mehr gravitative Anziehung, als wir mit der bekannten Materie erwarten würden. Daher gehen wir davon aus, dass es noch eine andere, unsichtbare Materie gibt.

Jahrelang hat man nach dieser unsichtbaren Materieform gefahndet, unter anderem mit Hilfe des Teilchenbeschleunigers LHC. Gefunden wurde bisher nichts. Der Physiker Bob Henderson resümierte kürzlich: „Der LHC hat bei der Suche nach diesen Teilchen versagt.“

Josef Pradler: Ich denke, es ist zu früh, um hier den Sargnagel draufzumachen. Wir beobachten die Dunkle Materie überall, von der Nachbarschaft des Sonnensystems bis hin zu den größten Skalen des Universums. Nur kennen wir ihre mikrophysikalischen Eigenschaften nicht. Ein Teilchen der Dunklen Materie könnte zum Beispiel eine Masse haben, die im Bereich des Wasserstoffatoms liegt. Aber sie könnte auch zehn Milliarden Mal größer oder kleiner sein. Der LHC kann nur einen gewissen Bereich abdecken - in diesem Bereich wurde noch nichts gefunden.

Jochen Schieck: Dazu kommt noch: Wir haben bisher mit dem LHC nur ungefähr ein Zwanzigstel der Daten gesammelt, die wir bis 2035 sammeln möchten. Wenn die Dunkle Materie nur sehr schwach mit der normalen Materie in Wechselwirkung tritt, würde sie sich nur durch ganz winzige Effekte bemerkbar machen.

Physiker Jochen Schieck Josef Pradler vor einer Tafel mit Formeln

ORF/Czepel

Josef Pradler (li.) und Jochen Schieck am Akademie-Institut in der Wiener Apostelgasse: „Den Satz auf der Tafel haben uns die Geisteswissenschaftler hingeschrieben. Wir löschen ihn nicht.“

Zackaria Chacko von der University of Maryland geht davon aus, dass es im Universum einen „Dunklen Sektor“ gibt, der von einer ganzen Schar Teilchen bevölkert wird. Da ist auch die Rede von „Portalen“, durch die Teilchen zwischen der dunklen und der sichtbaren Seite der Welt hinüberwechseln.

Jochen Schieck: Zu diesem Thema haben wir den „world leading expert“ hier sitzen!

Josef Pradler: (lacht) „Portal“ ist einfach ein Begriff, der sich eingebürgert hat. Im Grunde geht es darum herauszufinden, wie weit man das Standardmodell der Elementarteilchen erweitern muss, um die Dunkle Materie daran zu koppeln. Das kann man auf zwei Arten tun: Entweder möglichst sparsam - oder man nimmt an, dass es viele Dunkle Teilchen gibt. Im Fall von Chackos Modell hätte etwa das Higgs-Boson einen dunklen Zwilling. Mit diesem Ansatz könnte man außerdem die bislang unverstandene Masse des Higgs-Teilchens erklären. Das ist eines der größten Probleme der theoretischen Physik.

Jochen Schieck: Es spricht nichts dagegen, mehr neue Teilchen einzuführen. Die bisher favorisierten, einfachsten Theorien zur Dunklen Materie kann man mit heutigem Stand fast schon ausschließen. Deshalb neigen die Theoretiker immer mehr einem Dunklen Sektor zu. Das wird experimentell nicht so einfach zu prüfen sein, aber wie gesagt: Es spricht nichts dagegen.

Josef Pradler: Wir Teilchenphysiker werden ja immer wieder mal kritisiert. Da heißt es dann: Ihr führt immer neue Teilchen ein und jetzt haben wir schon einen ganzen Zoo. Ich möchte darauf hinweisen: Das ist keine Beschäftigungstherapie. Das Standardmodell der Elementarteilchen erklärt alle Phänomene um uns - bis auf die Gravitation. Das Modell ist die beste Theorie, die wir haben, aber es hat komplett unverstandene Features. Sobald man versucht, diese großen Probleme zu lösen, kommt man fast automatisch zu neuen Teilchen und neuen Wechselwirkungen.

Bei der Dunklen Materie geht es um fehlende Masse im Universum. Ein ähnliches Problem gab es in historischer Zeit schon einmal: Als Ernest Rutherford vor 100 Jahren den Atomkern entdeckte, stellte sich heraus, dass die Masse des Atomkerns nicht mit der Ladungszahl übereinstimmt. Rutherford sagte voraus: Es muss ein neues neutrales und massives Teilchen geben, das Neutron. Und als es nachgewiesen wurde, haben die Physiker auch eine neue Kraft entdeckt, die starke Kernkraft. Das Neutron war also so etwas wie die Dunkle Materie dieser Zeit. Beziehungsweise: Gut möglich, dass wir heute in der gleichen Situation sind wie damals Rutherford.

Der Experimentalphysiker Henry Lubatti sagte kürzlich: Die Suche nach versteckten Materiesektoren ist wie „die Suche nach einer Nadel im Heuhaufen, wobei wir nicht einmal wissen: welcher Heuhaufen?“

Jochen Schieck: Alles, was wir tun können, ist, Hypothesen aufzustellen und sie im Experiment zu bestätigen oder zu widerlegen. Was wäre die Alternative: nichts tun? Das ist für mich keine Option. Ich habe ein wissenschaftliches Problem und möchte es lösen.

Positiv gewendet: Vielleicht kippt die Physik demnächst in ein ganz neues Weltbild?

Josef Pradler: Ich wäre voll dabei bei einer Revolution. Wir sind nicht dogmatisch und suchen ständig nach neuen Ideen. Nur muss man als Forscher auch eine Balance finden. Man kann nicht ständig nur radikal sein.

Am CERN wurde nun ein Konzept für einen neuen Detektor vorgelegt, das Projekt MilliQan. Was hat es damit auf sich?

Josef Pradler: Dunkle Materie ist dunkel, das heißt, sie koppelt nicht stark an Licht. Man kann sich die Frage stellen: Wie stark ist stark? Es könnte nämlich durchaus sein, dass Dunkle Materieteilchen mit einer ganz schwachen elektrischen Ladung ausgestattet sind. Das MilliQan-Experiment sucht nach solchen Teilchen.

Und ein solcher Detektor wäre relativ billig, wie zu lesen ist.

Josef Pradler: Man verwendet dafür szintillierende Plastikpanele, die Kosten sind relativ beschränkt. Das Prinzip ist folgendes: Man stellt diesen Detektor in der Nähe der Kollisionspunkte eines Teilchenbeschleunigers auf. Dort werden möglicherweise Dunkle Teilchen erzeugt, die dem normalen Detektor entfleuchen. Aber weil sie eine Milliladung aufweisen, könnte man sie in so einem zusätzlichen Experiment nachweisen.

Hat das Experiment Aussicht auf Realisierung?

Jochen Schieck: Mit genau solchen Themen werden wir uns in den nächsten Jahren beschäftigen. Wir versuchen bis 2020 zu klären, wie es mit der europäischen Teilchenphysik weiter geht: Was sind die nächsten Experimente? Was sind die Fragestellungen? MilliQan ist ein relativ günstiges Experiment. Da bin ich optimistisch und denke, das könnte sogar von ein paar Instituten getragen werden.

Es gibt auch Leute, die sagen: Das „Leck“ an Materie im Universum entsteht dadurch, dass mit der Gravitationstheorie etwas nicht stimmt. Vielleicht liegt das Rätsel ja in der Theorie und nicht im Experiment?

Josef Pradler: Das wäre natürlich eine attraktive Möglichkeit: Man ändert die Gravitationstheorie, erklärt damit alle Phänomene und braucht auch keine neuen Teilchen. Tolle Sache. Die Theorie der modifizierten Gravitation funktioniert bei Galaxien und Galaxienhaufen. Aber sie geht komplett schief, wenn es um die kosmische Hintergrundstrahlung geht. Dort steckt extrem viel Information über den Aufbau des Kosmos drin. Und es existiert bis dato keine Theorie der modifizierten Gravitation, die die Eigenschaften der Hintergrundstrahlung erklären könnte.

Jochen Schieck: Das Problem ist fundamental. Man sollte daher nicht Theorie und Experiment gegeneinander ausspielen. Ich bin auch weit entfernt davon, sagen zu können: Das ist der richtige Weg. Aber beim Experiment die Flinte ins Korn zu werfen - so weit sind wir noch nicht.

Josef Pradler: Ich möchte an dieser Stelle einen der führenden Theoretiker, Nima Arkani-Hamed, zitieren. Er hat vor ein paar Jahren einen Vortrag gehalten mit dem Titel: „Don’t modify gravity - understand it!“

Die deutsche Theoretikerin Sabine Hossenfelder vertritt in ihrem soeben erschienenen Buch „Das hässliche Universum“ folgende These: Die Physiker kommen deshalb nicht weiter, weil sie zu sehr nach schönen Theorien gesucht haben. Eine berechtigte Kritik?

Jochen Schieck: Das wäre ein Ansatz. „Schöne“ Symmetrien waren in der Geschichte der Physik schon immer ein wichtiges Hilfsmittel und haben bis jetzt auch immer weitergeholfen. Klar ist: Alle Annahmen - und da gehört die Symmetrie auch dazu - sind kritisch zu hinterfragen. Und wenn man sich von den Annahmen zu stark leiten lässt, geht man vielleicht in die falsche Richtung. Allerdings kann ich schon auch sagen: Es gibt genug neue Theorien, die beliebig hässlich sind.

Josef Pradler: Ich würde sogar sagen: Genau dieser Ansatz wird heute vielfach verfolgt. Wir pfeifen auf die Schönheit der Theorie, setzen ein paar minimale neue Terme in unser Modell - und schauen, wie wir es testen können.

Interview: Robert Czepel, science.ORF.at

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