Heimkinder erreichen nur selten höhere Bildung

11.000 Kinder und Jugendliche in Österreich wachsen in Wohngemeinschaften oder Kinderheimen auf, weil sie in der Familie Gewalt oder Vernachlässigung erlebt haben: Ihre Bildungschancen sind gering.

Heimkindern wird in Österreich noch immer wenig Bildung zugetraut, ihr Scheitern geradezu erwartet. Zu Unrecht, sagt Stephan Sting vom Institut für Erziehungswissenschaft und Bildungsforschung der Universität Klagenfurt. Er hat in der ersten österreichischen Studie über die sogenannten „Care Leaver“ 122 ehemalige Heimkinder zwischen 20 und 29 Jahren befragt und mit 23 vertiefende Interviews geführt.

Die Eltern überflügelt

Das Bildungsniveau der 20- bis 29-jährigen „Care Leaver“ ist laut Studie zwar geringer als in der gleichaltrigen Gesamtbevölkerung. Trotz der vielfach schlechten Voraussetzungen haben sie allerdings häufiger zumindest eine Berufsbildende Mittlere Schule oder Lehre absolviert als von den Forschern im Vorfeld erwartet, so Sting im Gespräch mit der APA. Im Vergleich zu ihren Eltern erreichen ehemalige Heimkinder damit deutlich höhere Bildungsabschlüsse. Das Ziel, ein eigenständigeres und besseres Leben zu erreichen als die Eltern, wird in einigen Interviews sogar als wichtiger Antrieb genannt.

Betrachtet man die Gruppe der 25- bis 29-Jährigen, verringert sich außerdem der Abstand der „Care Leaver“ zur Gesamtbevölkerung. „Das heißt, dass sie sich verzögert auf eigene Faust und ohne Unterstützung bemühen, neben dem Geldverdienen zu Abschlüssen oder höheren Berufsabschlüssen zu kommen.“ Hochschulabschlüsse sind aber nach wie vor selten. „Da sind offensichtlich die Rahmenbedingungen nicht günstig.“

Hürden im Bildungssystem

Nicht nur traumatische Erlebnisse in der Familie und das Fehlen stabiler Beziehungen in der Jugendhilfe hemmen den Bildungserfolg. Die Studie zeigt, dass auch das Bildungssystem „Care Leavern“ Steine in den Weg legt: Junge Menschen aus Betreuungseinrichtungen würden stigmatisiert, die Erwartung an ihre Schulleistungen seien gering. „Lehrer müssten hier aufgeschlossener sein und ohne Stereotype und Vorurteile herangehen“, fordert Sting.

Schatten eines Kindes auf einer Schaukel

APA/dpa/Julian Stratenschulte

11.000 Kinder und Jugendliche wachsen in Österreich in Wohngemeinschaften oder Kinderheimen auf

Dazu kommt, dass Jugendhilfe-Einrichtungen auf schnell erreichbare Abschlüsse drängen. „Hier wird argumentiert: Lieber schnell ein Beruf als höhere Bildung mit unsicheren langen Wegen, wo unklar ist, wie die Person ihre finanzielle Existenz sichern kann“, so Sting. Immerhin endet die Betreuung in der Jugendhilfe in der Regel mit 18, in Einzelfällen auf Antrag mit 21 Jahren.

Diejenigen, die von sich aus Matura oder ein Studium anstreben, fühlen sich von den Institutionen denn auch wenig unterstützt. Der 25-jährige Martin etwa berichtet in der Studie von seinem Wunsch als Zwölfjähriger, Arzt zu werden. Unmöglich für den Sohn zweier „Penner“, habe er von seiner Lehrerin zu hören bekommen; er solle lieber auf den Bau arbeiten gehen, meinten die Psychologin und der Leiter des Kinderdorfes. Martin wird schließlich Elektriker, lernt allerdings später einen Zweitberuf und holt auch die Matura nach. Zum Zeitpunkt des Interviews überlegt er, doch noch ein Studium zu beginnen.

Freunde und Partner motivieren

Während die leiblichen Eltern überhaupt nicht und Jugendhilfeeinrichtungen oder Schule selten als Unterstützung bei der Bildungslaufbahn erlebt werden, spielen Freunde und Partner die zentrale Rolle. Sie trauen den Jugendlichen am meisten zu, und zwar laut Sting „unabhängig davon, ob diese Peers selbst sehr bildungsorientiert sind oder nicht“.

Sollen mehr „Care Leaver“ als bisher Chancen auf höhere Bildung bekommen, braucht es aus Sicht des Wissenschaftlers eine Änderung der Rahmenbedingungen: In der Jugendhilfe dürfe die Lehre nicht mehr als Standard angenommen werden. Es bräuchte außerdem eine Existenzsicherung, wenn „Care Leaver“ Matura machen und über ein Hochschulstudium nachdenken. Ein Hebel wären laut Sting spezielle Stipendien, die nicht vom Einkommen der Eltern abhängen.

Außerdem müsse die frühe Beendigung der Jugendhilfe hinterfragt werden. „Gerade Menschen, die mehr Belastungen erlebt haben, sind mit 18 nicht fertig für ein eigenes Leben und brauchen auch in Bezug auf die eigene Lebensgestaltung Ansprechpersonen und eine gewisse Unterstützung.“ Das könnte etwa eine ambulante Beratung beim Übergang vom Leben in Institutionen in die Selbstständigkeit sein, aber auch spezielle Mentoren an den Hochschulen.

science.ORF.at/APA

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