Geplündert, demoliert, dann ignoriert

Bis 1938 war in Wien die drittgrößte jüdische Gemeinde Europas zu Hause. Mit den Pogromen vom 9. auf den 10. November 1938 begann die Zerstörung von Zentren jüdischen Lebens. Auch nach 1945 blieb das Interesse an ihnen aus, zeigt eine neue Ausstellung.

Heute jähren sich die Novemberpogrome zum 80. Mal. Die Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 bildete den Auftakt für die spätere systematische Vernichtung jüdischen Lebens – den Holocaust. So auch in Wien, wo der Antisemitismus innerhalb der Bevölkerung stark verbreitet war. Im Wiener Stadt- und Landesarchiv ist seit Kurzem eine Ausstellung über verschwundene Zentren jüdischen Lebens zu sehen, die auch aktuelle Archivfunde präsentiert. Diese liefern neue Erkenntnisse. Darunter die Einsicht, dass an den Synagogen und jüdischen Bethäusern, die den Holocaust überstanden hatten, die Zweite Republik lange kein Interesse zeigte.

Hubertempel

Wiener Stadt- und Landesarchiv

Huber-Tempel

Ein Bild aus dem Jahr 1944, entdeckt in den Beständen des Wiener Stadt- und Landesarchivs: Die Fassade der einst prächtigen Synagoge in der Hubergasse 8 im 16. Wiener Gemeindebezirk wirkt intakt. Die Innenräume sind sechs Jahre zuvor - während der Novemberpogrome – geplündert und angezündet worden. Danach nutzten die Nationalsozialisten das Gebäude als Lagerhalle.

Ö1-Sendungshinweis

Über das Thema berichteten auch die Ö1-Journale, 9.11., 12:00 Uhr.

Der Huber-Tempel war eines von vielen Zentren jüdischen Lebens in Wien. 550 jüdische Vereine, 300 Stiftungen, 26 größere Synagogen und 70 kleinere Bethäuser gab es hier bis 1938, bis zur Nacht vom 9. auf den 10. November. „Die Gebäude wurden niedergemacht oder zweckentfremdet genutzt. Und nach 1945 hat man überhaupt nicht das Bewusstsein gehabt, diese Gebäude oder Zentren wiederzubeleben oder zu erhalten“, sagt die Historikerin und Ausstellungskuratorin Shoshana Duizend-Jensen.

Heute steht an der Stelle des Huber-Tempels ein Wohnhaus. Der Tempel wurde erst 1970 abgerissen – von der Stadt Wien, der damaligen Eigentümerin. In vollem Bewusstsein davon, dass es sich dabei um eine ehemalige Synagoge handelt. Davon zeugt ein Bescheid, den Shoshana Duizend-Jensen in den Beständen des Wiener Stadt- und Landesarchivs gefunden hat. Er ist nun ebendort, in der von ihr kuratierten Ausstellung, zu sehen. „Ich glaube, dass diese Geschichte noch nicht geschrieben ist: Die Geschichte der Synagogen nach dem Novemberpogrom“ so Duizend-Jensen.

NS-Parteilokal im Bethaus

Das ehemalige jüdische Bethaus in der Kaschlgasse 4 im 20. Wiener Gemeindebezirk ist ein weiteres Beispiel. Die Nazis nutzen es nach den Novemberpogromen als Parteilokal, führten dort Verdi-Konzerte auf, zeigt eine kürzlich entdeckte und nunmehr ausgestellte Fotoserie. Dort, wo einst Thorarollen standen, steht ab 1938 ein riesiges Hakenkreuz.

Aufführung Verdi

Wiener Stadt- und Landesarchiv

Verdi-Aufführung

Nach 1945 trat die Israelitische Kultusgemeinde die Rechtsnachfolge des ehemaligen jüdischen Betvereins aus der Kaschlgasse an. „Aber die Kultusgemeinde hatte im 20. Bezirk keine Verwendung mehr für das Bethaus. Sie war ja vollkommen verarmt und die Menschen waren entweder ermordet worden oder sind geflüchtet. Und so hat die Kultusgemeinde dann das Haus an die Kommunistische Partei Österreichs weitervermietet. Und die hat es dann nochmals einträglich vermietet. Und zwar an einen Trachtenverein, der dort Tanzveranstaltungen gemacht hat“, sagt Shoshana Duizend-Jensen. Heute steht das Erdgeschoss des nunmehrigen Wohnhauses leer. Davor befand sich dort ein Supermarkt.

An die Synagogen und Bethäuser, die es heute nicht mehr gibt, erinnert nun das Wiener Stadt- und Landesarchiv. Die Ausstellung „Geplündert, verbrannt, geräumt, demoliert. Verschwundene Zentren jüdischen Lebens in Wien“ ist bis Ende Februar 2019 zu sehen.

Tanja Malle, Ö1-Wissenschaft

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