Mehr Antidepressiva nach „Brexit“-Votum

Das Ja zum Austritt aus der Europäischen Gemeinschaft war für viele Britinnen und Briten ein Schock. Unmittelbar danach stieg auch der Antidepressivaverbrauch. Laut Forschern könnte das ein Ausdruck der allgemeinen Verunsicherung sein.

Mittlerweile ist der Termin fix: Am 29. März 2019 wird Großbritannien formal aus der Europäischen Union austreten. Wie lang die anschließende „Übergangsperiode“ dauern soll, wird noch diskutiert. Noch drei Jahre früher, im Frühling 2016, hatte es kaum jemand in Europa für möglich gehalten, dass der „Brexit“ eines Tages tatsächlich Realität werden könnte. Zu viel stünde auf dem Spiel: der freie Handel, die Reisefreiheit, das europäische Regelsystem und vieles mehr. Der Lebensstandard könnte sinken, die Arbeitslosigkeit steigen, genauso die Inflation, so ein paar der Befürchtungen. Am 23. Juni 2016 ist der unerwartete Fall trotzdem eingetreten: Eine Mehrheit der britischen Bürgerinnen und Bürger stimmte - wenn auch knapp - für einen Austritt. Niemand hatte damit gerechnet. Der Schock war groß. Die Stimmung vielerorts im Keller.

Nationale Erschütterungen können tatsächlich tief gehen, echten psychischen Stress und mehr auslösen, schreiben die Forscher um Sotiris Vandoros vom Londoner King’s College nun im „British Medical Journal“. Untersucht wurde das bereits in Zusammenhang mit Terroranschlägen. Aber auch die globale Wirtschaftskrise hinterließ persönliche Spuren. Untersuchungen zeigen: Es gab mehr depressive Erkrankungen und die Suizidraten stiegen.

Persönliche Verunsicherung

Ganz allgemein nehmen gesundheitliche und psychische Probleme in wirtschaftlich unsicheren Zeiten zu, schreiben die Autoren um Vandoros. Da der „Brexit“ bzw. die Entscheidung für den Austritt viele verunsichert hat, könne man davon ausgehen, dass auch das Votum vergleichbare Folge nach sich gezogen hat. Das Ganze sei ein einzigartiges Echtzeitexperiment. Selten gebe es ein einziges Ereignis, das quasi über Nacht alles verändert oder sich zumindest so anfühlt.

Dass solche nationalen Entscheidungen neben wirtschaftlichen und politischen Konsequenzen noch ganz andere Kosten verursachen können, wird laut den Wissenschaftlern von Politikern und Entscheidungsträgern gern unterschätzt. Es betrifft jeden einzelnen auch persönlich - das wiederum wirke sich auf die Wirtschaft und den sozialen Zusammenhalt aus.

Unterschätze Auswirkung

Wie sehr sich das „Brexit“-Votum auf die Stimmung in der Bevölkerung auswirkt hat, haben die Forscher nun indirekt untersucht, und zwar anhand von Daten von Allgemeinmedizinern aus den 326 Wahlkreisen. In jedem gibt es im Durchschnitt 36 praktische Ärztinnen und Ärzte sowie etwas weniger als 170.000 Einwohner. Verglichen wurde die Anzahl der Verschreibungen von Antidepressiva mit der von anderen Medikamenten, deren Gebrauch normalerweise von äußeren Umständen unabhängig ist, z.B. Insulin, Eisenpräparate oder Mittel gegen Gicht, berücksichtigt wurden Zahlen von 2011 bis 2016. Im Juli 2016 wurden - relativ zur Entwicklung bei den anderen Medikamenten - 13,4 Prozent mehr Antidepressiva verschrieben. Zwischen den Pro- und Contra-„Brexit“-Regionen war dabei kein Unterschied feststellbar.

Die Menge an Antidepressiva kann laut den Forschern höchsten ein indirekter Indikator bzw. eine Näherung für die allgemeine psychische Belastung sein. Denn die Stimmungslage im Land könnte auch gut sein und nur bestimmte Gruppen stärker beeinträchtigt. Ganz allgemein lasse sich anhand der Daten nicht belegen, ob es sich tatsächlich um einen ursächlichen Zusammenhang handelt. Mit der Studie wolle man aber darauf aufmerksam machen, dass jede oder jeder einzelne darunter leiden kann, wenn die Zeiten wirtschaftlich und politisch instabil sind.

Eva Obermüller, science.ORF.at

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