Was Forscherinnen zu Silvester machen

Allerorten Feuerwerk und Feierstimmung? Silvester geht auch anders: ein Besuch bei vier Forschern und Forscherinnen, die das Jahr in konzentrierter Stille ausklingen lassen. Im Labor, am Schreibtisch - und in der Ideenwerkstatt.

Für Valentyna Mokina steht heute Schichtdienst auf dem Programm. Die ukrainische Physikerin von der Österreichschen Akademie der Wissenschaften arbeitet in einem unterirdischen Labor. Zwischen ihrem Arbeitsplatz und der Außenwelt liegen 1.400 Meter Gestein, es gibt wohl nur wenige Orte auf der Erde, die so gut von kosmischer Strahlung und anderen Einflüssen abgeschirmt sind, wie die Forschungslaboratorien in der italienischen Provinz L’Aquila.

Suche nach dem Phantom

Hier, tief im Inneren des Gran-Sasso-Gebirges, sucht Valentyna Mokina nach Dunkler Materie. Laut Theorie muss diese unsichtbare Form der Materie existieren, ansonsten wären weder die Galaxienbewegungen zu erklären, noch der Aufbau des Universums auf großen Skalen. Nachgewiesen wurde dieses physikalische Phantom bisher nicht, trotz intensiver Bemühungen zahlreicher Forschergruppen auf der ganzen Welt.

Der große Wurf soll nun endlich mit dem Experiment CRESST gelingen. Mokina ist heute für die Suche nach „Cryogenic Rare Events“ verantwortlich (der Rest des Akronyms steht für „Search with Superconducting Thermometers“). Sie versucht Lichtspuren von Dunkle-Materie-Teilchen mit Hilfe von Kristallen nachzuweisen. Selten sind diese Spuren deswegen, weil die Dunkle mit der „normalen“ Materie nicht in Wechselwirkung tritt - aber manchmal tut sie es, so zumindest die Hoffnung, doch.

Die Kristalle werden bei dem Experiment fast bis zum absoluten Nullpunkt abgekühlt, erklärt Mokina: „Um die Temperatur so niedrig zu halten, muss ich regelmäßig flüssiges Helium und flüssigen Stickstoff in der Kühlkammer nachfüllen. Die restliche Zeit überwache ich die Daten und schaue, dass mit den Detektoren alles glatt läuft - damit alle anderen feiern können.“

Schutzanzug: Physikerin Valentyna Mokina im Labor

Valentyna Mokina

Sucht die Dunkle Materie: Valentyna Mokina

Gelänge es, das Streusignal eines Dunklen Partikels einzufangen, wäre das zweifelsohne eine wissenschaftliche Sensation. Gleichwohl eine mit verspätetem Heureka-Moment: „Die Datenauswertung dauert Wochen bis Monate“, sagt Mokina. „Erst dann können wir sicher sein, dass wir etwas in der Hand haben.“

Wer weiß, vielleicht ereignet sich die Reaktion just in der Silvesternacht? Während das Partyvolk da oben mit Pyrotechnik feiert, hofft die Physikerin auf ihr ganz persönliches Feuerwerk: ein Funkeln im Kristall.

Im Grenzland

Als Denise Schellmann an ihrer Dissertation im Fach pharmazeutische Chemie arbeitete, begann sie zu ahnen, dass die Laborforschung nur der Auftakt für ein neues Kapitel sein würde. Sie fühlte sich immer stärker zur Kunst hingezogen, versuchte sich einige Jahre lang an Portraitmalerei, bis ihr der österreichische Künstler Loys Egg den Rat gab: „Deine Portraits sind gut und schön, doch du musst deine wissenschaftlichen Kenntnisse in die Kunst einfließen lassen. Erst dann bist du ein Ganzes.“

Einen Weg, genau das zu tun, bot das Masterstudium „Art & Science“ an der Angewandten. Die Bewerbung für die Meisterklasse verlief erfolgreich - und so wurde aus der studierten Pharmazeutin eine „Zwischenschaftlerin“, eine Grenzgängerin in der Kontaktzone von Kunst und Forschung.

Nach vier Jahren an der Angewandten sind für sie die disziplinären Trennlinien durchlässig geworden, mehr noch: „Ich glaube, Kunst und Wissenschaft sind eigentlich das Gleiche.“ Denn Künstler, so Schellmann, müssten wie Wissenschaftler ihren Untersuchungsgegenstand zunächst erforschen, dann die Vernunft beiseiteschieben und das Verstandene im Unbewussten sedimentieren lassen: „Erst wenn das gelungen ist, kann echte Kreativität entstehen.“

Künstlerin Denise Schellmann in ihrem Atelier

ORF/Czepel

Lässt die Stifte tanzen: Denise Schellmann

In Schellmanns Atelier in der Wiener Liechtensteinstraße fallen zunächst die zahlreichen Rötel-, Bunt- und vor allem Bleistifte auf, die da säuberlich in Gruppen geordnet auf dem Schreibtisch stehen. Wie viele sind es? Die Frage entlockt ihr ein Schmunzeln: „Ich glaube, es sind mehr als 1.500. Da habe ich wohl ausgesorgt.“ Gleich daneben liegt die Zeichnung, an der die Künstlerin gerade arbeitet. Die fragilen Linien auf Papier haben nichts Gegenständliches an sich, und doch könnte man sie mit einem Gegenstand in Verbindung bringen.

Die Zeichnung ist eines der Ergebnisse von Schellmanns Beschäftigung mit den Strukturen der Materie. Ihre Diplomarbeit wird Ende Februar am CERN zu sehen sein, vier Mal habe sie das Europäische Kernforschungszentrum im Kanton Genf im Zuge ihrer Recherchen bereits besucht, erzählt sie, „und jedes Mal, wenn ich durch den Eingang gehe, bekomme ich Gänsehaut. Der faszinierendste Ort ist für mich die Kantine: Dort treffen sich die Top-Wissenschaftler, dort plaudern alle auf freundschaftliche Art miteinander, dort entstehen die großen Ideen. Das mitzuerleben ist ein großartiges Gefühl. Ich weiß nicht, wie ich es beschreiben soll: Es ist fast wie Liebe.“

Die musikalische Begleitung zur Vernissage am CERN wird das Klangforum Wien beisteuern. Schellmann lässt auch zeitgenössische Musik in ihre Arbeit einfließen, sie hört, liest, fühlt - und versucht all das mit ihrem Werkzeug, dem Bleistift, in eine andere Sprache zu übersetzen. Noch ist die Diplomarbeit nicht fertig, es gibt viel zu tun. Auch am Silvesterabend: „Meine Zeichnungen entstehen intuitiv, ohne Kontrolle. Ich lasse den Bleistift tun, was er will.“

„Ich will Patienten helfen“

Das Institut für anorganische Chemie der Uni Wien befindet sich in einem historischen Gebäude in der Währinger Straße 42. Äußerlich ist der dreistöckige Bau, errichtet in den Jahren 1905 - 1915, der Habsburgerzeit zuzurechnen. An der Türschwelle betritt man die Gegenwart.

In den Laborregalen lagern hunderte Reagenzien in weißen, kleinbedruckten Plastikbehältern, an den Wänden stehen die Arbeitsbänke mit Glasschutz, Kühlkolben und allerlei technischem Gerät bereit: Hier entstehen jene Synthesen, durch die "sich die Chemie ihr Objekt selbst schafft“, wie das einst der Franzose Marcellin Berthelot ausgedrückt hat. Das gilt auch für die Forschung von Christian Kowol.

Chemiker Christian Kowol im Labor

ORF/Czepel

Synthetisiert neue Medikamente: Christian Kowol

Bei den Objekten, die der Chemiker in seinem Labor schafft, handelt es sich um Krebsmedikamente. Heute ist sein Team mit der Synthese, Reinigung und Analyse metallhaltiger Chemotherapeutika beschäftigt. Kowol steht als Gruppenleiter selbst nicht mehr an der Arbeitsbank, Arbeit gibt es freilich dennoch genug. „Ich muss eine Dissertation aus Italien korrigieren, Publikationen von Kollegen beurteilen und Forschungsprojekte einreichen, für solche Arbeiten sind die Weihnachtsferien eigentlich ideal“, sagt Kowol. „Das Problem ist nur: Nachdem auch viele Kollegen zu den Feiertagen arbeiten, bekomme ich die Antworten meist früher zurück als erwartet - und komme wieder unter Zeitdruck.“

So dreht sich denn das Rad der Wissenschaft auch in der vermeintlich ruhigen Zeit mit unvermindertem Tempo weiter. Kowol nimmt es gelassen, er weiß mit Forschungsprojekten - derzeit sind es über 30 - zu jonglieren. Die größte Hoffnung setzt der Wiener Wissenschaftler auf einen Wirkstoff namens Albuplatin. Laut Tierversuch wirkt die Verbindung besser als bisher zugelassene platinhältige Chemotherapeutika. Und sie hat weniger Nebenwirkungen.

Ob das auch für den Menschen gilt, sollen klinische Studien ab dem übernächsten Jahr zeigen. Ein Lotteriespiel bleibt das Unterfangen selbst in diesem fortgeschrittenen Stadium. Denn von 10.000 neu synthetisierten Verbindungen wird im Schnitt höchstens eine als Medikament zugelassen. „Wir sind auf einem guten Weg“, sagt Kowol. „Ich will Patienten helfen - das ist meine Vision.“

Dissonanz: Der Riss im Text

Das Laboratorium, das Marc Caplan heute betritt, ist ein gedachtes. Der US-amerikanische Literaturwissenschaftler, derzeit am Internationalen Forschungszentrum Kulturwissenschaften (IFK) in Wien tätig, beschäftigt sich mit jener großen Versuchsanordnung, die wir die europäische Kulturgeschichte nennen.

Anschauungsbeispiele für seine Fragestellungen fand Caplan in der jüdischen Literatur, entstanden in der Achsenzeit um die Jahrhundertwende 1800 - in jener Zeit also, als so unterschiedliche Ideen wie Aufklärung, Romantik und Nationalismus auf dem europäischen Kontinent Einzug hielten. Das, was Caplan besonders interessiert, sind die Reibungsflächen und Verwerfungen, die zum einen zwischen Weltanschauungen, zum anderen zwischen jiddischen und deutschen Textpassagen entstehen.

Wenn ein Autor versucht, diese Vielheit zu bündeln, sagt Caplan, dann schafft er einen „polytonalen“ Text. So geschehen etwa im Werk von Aaron Halle-Wolfssohn, Shloyme Ettinger und Isaac Euchel. Den Begriff der Polytonalität hat sich Caplan bei den Musikwissenschaftlern ausgeborgt - und musikalisch ist auch seine Lesart. Die kulturellen Widersprüche erzeugen Dissonanzen im Text, sagt er. „Meine Autoren versuchen so zu sein wie Haydn und Mozart, aber letztlich klingen sie wie der späte Beethoven.“

Kulturwissenschaftler Marc Caplan am Schreibtisch

ORF/Czepel

Sucht den entscheidenden Satz: Marc Caplan

„Ich bin selbst ein polytonales Wesen“, erzählt Caplan beim Gespräch in seinem karg eingerichteten Büro in der Wiener Reichsratsstraße, wo er seit Oktober seine literarische Spurensuche betreibt. „Ich komme aus Amerika und bin mit Englisch als Muttersprache aufgewachsen. Mit meinen Kindern spreche ich ausschließlich Jiddisch. Hier in Wien versuche ich Deutsch zu sprechen. In Israel spreche ich Hebräisch und in Frankreich Französisch.“ Historisch betrachtet ist das der Normalfall, nicht die Ausnahme. Die Idee der Einsprachigkeit ist jung, sie ist ein Kind der modernen Zeit.

Den Silvestertag verbringt Caplan in aller Ruhe, am Schreibtisch lesend und schreibend. Das ist nicht nur seinem wissenschaftlichen Fleiß geschuldet, sondern auch einem „schmerzvollen“ Erlebnis bei einer Silvesterfeier, die er als Achtzehnjähriger in einer Bar in Louisiana verbrachte. Details will der US-amerikanische Kulturwissenschaftler nicht nennen, alkoholische Getränke genießt er am 31. Dezember jedenfalls nur noch in Maßen.

Seine schriftliche Arbeit wird Caplan wohl auch in privater Angelegenheit absolvieren: Er möchte heute, an diesem speziellen Tag, die Rollen vertauschen und selbst in die Rolle des Romanciers schlüpfen. „Ich werde an einer Geschichte arbeiten. Es muss nicht viel dabei herauskommen, es muss nur gut sein. Drei oder vier Absätze. Im Grunde genügt mir ein guter Satz.“

Robert Czepel, science.ORF.at

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