Winckelmanns Tod in Triest

Vor 250 Jahren wurde der Kunsthistoriker Johann Joachim Winckelmann in Triest ermordet. Ein „Psychobiograf“ hat den Tathergang nun rekonstruiert und ist dabei auf überraschende Ergebnisse gestoßen – speziell was die Homosexualität Winckelmanns betrifft.

„Edle Einfalt und stille Größe"- so lautete das ästhetische Credo von Johann Joachim Winckelmann, der von 1717 bis 1768 lebte. Der Gelehrte rückte die griechische Antike in das Zentrum seiner wissenschaftlichen Tätigkeit. In seinem 1764 publizierten Hauptwerk „Die Geschichte der Kunst des Altertums“ beschrieb er hervorragende Skulpturen der Antike wie die Laokoon-Gruppe oder den Torso von Apollo. Diese Werke waren für ihn exemplarische Vorbilder für die zeitgenössische Kunst. Deren höchste Aufgabe sei es, so Winckelmann, Schönheit und Harmonie darzustellen.

„Deutung, die über Fakten hinausgeht“

In seinem Buch „Signor Giovanni“ – unter diesem Namen quartierte sich Winckelmann in einem Hotel in Triest ein – beschreibt Dominique Fernandez vorerst die glanzvoll verlaufene Karriere des Gelehrten. Aus ärmlichsten Verhältnissen stammend avancierte er zum Begründer der europäischen Kunstwissenschaft und zum Aufseher über die vatikanischen Antikensammlungen.

Dominique Fernandez

Margret Millischer

Dominique Fernandez wurde 1929 in Neuilly-sur-Seine geboren. Nach seinem Studium an der Ecole normale supérieure, das er mit einer Dissertation über den italienischen Schriftsteller Cesare Pavese abschloss, unterrichtete er am Institut français in Neapel; später lehrte er an der Universität in Rennes. 1982 wurde er für eine „Psychobiografie“ des italienischen Schriftstellers und Regisseurs Pier Paolo Pasolini mit dem Prix Goncourt ausgezeichnet. Seit 2007 ist er Mitglied der Académie française.

Kaiserin Maria Theresia schenkte dem Gelehrten als Dank für seine Verdienste Gold - und Silberstücke, die ihm zum Verhängnis wurden. Winckelmann zeigte sie dem Zimmernachbarn und Kleinkriminellen Francesco Arcangeli, der ihn in einem erbitterten Kampf durch sieben Messerstiche tödlich verletzte. Diese Version findet sich in den Gerichtsakten des Prozesses gegen Arcangeli, der mit einem Todesurteil endete. Fernandez zitiert Aussagen einiger Zeugen, wie er im Gespräch mit science.ORF ausführt.

„Diese Zeugenaussagen der Bediensteten oder des Hotelbesitzers sind durchaus Fakten, die sich in italienischen Prozessakten finden. Aus diesen Akten geht hervor, dass es sich um einen Raubmord handelt, bei dem der Mörder die Medaillen stehlen wollte, die ihm die Kaiserin Maria Theresia geschenkt hatte. Ich versuche in meinem Buch, darüber hinauszugehen und dem Geschehen eine Deutung zu geben, die über die bloßen Fakten hinausgeht“, so Fernandez, der am Dienstag bei einer Veranstaltung im Literaturhaus in Wien über sein Buch gesprochen hat.

Die „Psychobiografie“ Winckelmanns

Nach der Rekonstruktion der Zeugenaussagen skizziert Fernandez die „Psychobiografie“ Winckelmanns, die sich aus verschiedenen Komponenten zusammensetzt. „Die ‚Psychobiografie‘ ist eine Vorgangsweise, die ich schon lange Zeit praktiziere. Im Unterschied zur klassischen Biographie, die sich mit bekannten Ereignissen befasst, die sich in Archiven finden oder tatsächlich passiert sind, bin ich davon überzeugt, dass ein Großteil dessen, was das Leben eines Menschen bestimmt, sich im Unbewussten abspielt“, sagt der Autor. Daher sei die „Psychobiografie“ der Versuch, hinter den Gedanken und Handlungen eines Menschen seine unbewussten Antriebskräfte zu finden.

Literaturhinweis

Dominique Fernandez: Signor Giovanni, Winckelmanns Tod in Triest, Übersetzung und Nachwort von Margret Millischer, Turia & Kant Verlag

In der Rahmenhandlung des Werkes kommentieren zwei Personen die Prozessakte. Ein Kommentator hält sich an die darin enthaltenen Aussagen, die er nicht in Zweifel zieht; sein Gesprächspartner äußert hingegen einen Verdacht: „Da ist etwas, was mich irritiert, denn Winckelmann war ja einer der angesehensten Gelehrten seiner Zeit. Er war Sekretär von Kardinal Albani in Rom und Bibliothekar in der Vatikanischen Bibliothek; er hatte also einen außerordentlichen sozialen Rang“, sagt Fernandez. „Was den Verdacht nährt, ist, dass er in dem Hotel unter falschem Namen abgestiegen ist; er nannte sich ‚Signor Giovanni‘. Er hat sich also versteckt, maskiert.“

Kenotaph von Johann Joachim Winckelmann in Triest

ORF

Kenotaph von Johann Joachim Winckelmann in Triest

Latente Homosexualität

Der Verdacht verstärkt sich, dass der Lebenswandel des Gelehrten, der in der griechischen Kunst nur „edle Einfalt und stille Größe“ sah, auch abgründige Seiten aufwies, die mit seiner latenten Homosexualität zu tun hatte, die seit seiner Jugendzeit vorhanden war. Hinweise darauf finden sich in seinen Schriften. Da heißt es: „Die größten Schönheiten der griechischen Kunst sind mehr von unserem Geschlecht als von dem anderen Geschlecht.“ Und an den Baron Friedrich Reinhold vom Berg schrieb er: „Alle Namen, die ich Ihnen geben könnte, sind nicht süß genug und reichen nicht an meine Liebe … Ich liebe Sie mehr als alle Kreaturen.“

Dominique Fernandez: „Winckelmann war homosexuell, was in Deutschland, Italien und Österreich verboten war. Daher ist die Flucht in die Schönheit und Harmonie der griechischen Kunst als Verdrängung, als Sublimation zu interpretieren, die mit der realen Person Winckelmann wenig zu tun hatte; denn seine Realität wurde von seiner Triebsteuerung bestimmt.“

Die Ambiguität Winckelmanns

Diese homosexuelle Triebsteuerung Winckelmanns zeichnet sich durch eine tiefgehende Ambiguität aus, die Fernandez so beschreibt: „Auf der einen Seite war Winckelmann der Begründer des Neoklassizismus, der den Modellcharakter der griechischen Kunst propagierte. Er trat für alles ein, was mit der Schönheit, mit der Harmonie und der Klarheit der Linien zu tun hatte. Auf der anderen Seite war Arcangeli besonders hässlich, sein Gesicht war mit Pockennarben übersät, und intellektuell war er keineswegs auf Winckelmanns Niveau.“

Dieser Widerspruch ergibt sich laut Fernandez aus der Tatsache, dass die gesellschaftliche Ächtung der Homosexualität sozial hochgestellten Persönlichkeiten kaum Möglichkeiten bot, ihre sexuellen Bedürfnisse offen auszuleben.

„Ein gutes Beispiel dafür ist der König Ludwig II. von Bayern, der sexuelle Verhältnisse mit seinen Dienern und Jagdgehilfen hatte“, so Fernandez. „Das war häufig so, dass wir bei sozial hochstehenden Persönlichkeiten, denen es verboten war, sich zu ihrer Homosexualität zu bekennen, beobachten können, dass sie mit Personen, die sozial niedriger gestellt waren, sexuelle Beziehungen eingingen. Es war damals nicht möglich, auf einer sozial gleichgestellten Ebene ein Verhältnis zu haben.“

Fresko auf dem Grab von Johann Joachim Winckelmann, ganz rechts er selbst, links ein paar der neun Musen aus der griechischen Mythologie

ORF

Fresko auf dem Kenotaphen, ganz rechts Winckelmann selbst, links Musen aus der griechischen Mythologie

Ähnliches habe sich auch in der jüngsten Vergangenheit ereignet. „In Italien war es der Regisseur Pier Paolo Pasolini, der sich am Bahnhof in Rom Strichjungen kaufte - da war keine Ebenbürtigkeit zu erkennen. Er musste für seine Dienste bezahlen. Und Pasolini wurde von einem dieser Strichjungen am Strand ermordet. Da gibt es eine große Ähnlichkeit zu Winckelmann, weil auch Arcangeli mehr oder weniger ein Prostiuierter war.“

Es gebe auch andere Beispiele, dass Intellektuelle Dienste von zweifelhaften Personen in Anspruch nahmen. Dies war der Fall bei Roland Barthes, der in seinem Buch „Begebenheiten“ beschrieb, wie er in Marokko sexuellen Umgang mit jungen Männern hatte.

Triest als Metapher für Winckelmanns Ambiguität

Den Schluss des Buches bildet eine poetische Beschreibung der Stadt Triest, die Fernandez metaphorisch deutet: „Triest ist auf der einen Seite die kaiserliche Stadt mit ihren Handelshäusern, Banken und eleganten Bauten; auf der anderen Seite Mittelmeerhafen mit Matrosen, Hafenarbeitern und den Spelunken, in denen sie verkehren. Vielleicht ist es kein Zufall, dass sich die Ermordung in Triest abgespielt hat, da die Stadt der Ambiguität von Winckelmanns Persönlichkeit entspricht. Auf der einen Seite die hochgestellte Persönlichkeit andererseits seine Männerphantasien, die sich auf exkludierte Bereiche des normalen gesellschaftlichen Lebens richten. So kann man Triest als Metapher für Winckelmanns existenzielles Dilemma sehen.“

Nikolaus Halmer, Ö1-Wissenschaft

Mehr zu Kunstgeschichte: